
Buchtipps, Bestseller und Neuerscheinungen
Buchtipps, Bestseller und Neuerscheinungen
Romane, Sachbücher, Klassiker, aktuelle Bestseller und nicht zu vergessen eine große Auswahl an Hörbücher.
Bei uns finden Sie bestimmt das Richtige. Um die Auswahl zu erleichtern, haben wir an dieser Stelle ein paar persönliche Empfehlung zusammengestellt.
- Buchtipps
Joshua Cohen: Die Netanjahus
Roman, Schöffling 2023
Der Pulitzer-Preisträger Joshua Cohen, bekannt durch seine Romane "Buch der Zahlen" und "Witz", hat ein neues Werk vorgelegt, in dem er eine der berühmtesten Politikerfamilien der Welt porträtiert: Die Netanjahus. Es geht darin jedoch weniger um den amtierenden israelischen Ministerpräsidenten „Bibi“ Netanjahu als vielmehr um dessen Vater Ben-Zion.
Entstanden ist daraus ein wundervoller Campusroman, auf dessen Folie Cohen dem jüdischen Leben in den USA auf fesselnde und urkomische Weise nachspürt – ein wichtiger und großartiger Roman über eine wahre Begebenheit im Leben der berühmten Politikerfamilie Netanjahu, fantasie- und humorvoll angereichert.
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Birgit Birnbacher: Wovon wir lebenRoman, Zsolnay 2023
Birgit Birnbacher, die Ingeborg-Bachmann-Preisträgerin aus dem Jahr 2019, hat einen neuen Roman vorgelegt. "Wovon wir leben" titelt er und erzählt von den beiden bestimmenden Dingen in unser alles Leben: von der Liebe und der Arbeit und der Suche nach dem Sinn dahinter.
Birgit Birnbacher ist erneut ein empathischer und tiefsinniger Roman über die existenziellen Fragen des Lebens gelungen – ein Buch über die kaum aufzubrechenden patriarchalen Strukturen am Land, Selbstzweifel und die Fragen, was will ich eigentlich im Leben.
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Franzobel: Einsteins HirnRoman, Zsolnay 2023
Spätestens seit "Das Floß der Medusa" gilt der österreichische Autor Franzobel als großer Könner, wenn es darum geht, aus historischen Stoffen großartige Romane entstehen zu lassen. Und auch in seinem jüngsten Roman erzählt er erneut eine auf historische Begebenheit basierende Geschichte, nämlich jene von "Einsteins Hirn".
Dass Franzobel nach eigenen Angaben große Freude hatte, diesen Roman zu schreiben, nimmt man dem Autor mehr als ab. So sprüht der Roman geradezu von Absurditäten und irrwitzigen sprachlichen Einfällen. Und dennoch zeigt er uns zugleich die tieftraurige Seite seiner Protagonisten.
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Dževad Karahasan: Einübung ins SchwebenRoman, Suhrkamp 2023
Auch der oft als „Chronist von Sarajevo“ bezeichnete Autor Dževad Karahasan hat kürzlich einen neuen Roman vorgelegt. In "Einübung ins Schweben" widmet sich der Bosnier erneut der jüngsten Geschichte seiner Heimat: der Belagerung Sarajevos während des Bosnien-Krieges.
Ein sprach- und bildgewaltigen Roman , der aufzeigt, wie der Krieg selbst einen humanistischen Denker zum unkontrollierten Unmenschen macht. Der Autor schockiert den Leser dabei aber nicht nur, sondern amüsiert ihn auch.
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Michael Roher: Wer stahl dem Wal sein Abendmahl?Gedichte, luftschacht 2013
Als Kinderbuchautor und -illustrator ist Michael Roher vielen schon längst ein Begriff: Der Alleskönner aus Niederösterreich hat sich in kurzer Zeit mit seinen Büchern gleichermaßen in die Herzen von Kindern wie Erwachsenen geschrieben und gezeichnet. Nun zeigt Roher eine weitere Facette seines Könnens, die absurden Texte in "Wer stahl dem Wal sein Abendmahl"? richten sich in erster Linie (aber nicht nur) an ein eher erwachsenes Publikum: Als hätten Wilhelm Busch, Ringelnatz und Paul Flora sich zusammengetan, sprüht es hier nur so vor Wortlust und Zeichenfreude.
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Arno Geiger: Das glückliche GeheimnisAutobiographie/Essay, Hanser 2023
Der aus Vorarlberg stammende Autor Arno Geiger hat nach rund fünf Jahren ein neues Buch vorgelegt. "Das glückliche Geheimnis" titelt es und erzählt in Form eines biographischen Essays die Geschichte, wie Arno Geiger selbst zur Schriftstellerei gefunden hat. Als eine Art Sperr- und Altpapiersammler erkundet er mehrmals wöchentlich Wien und durchforstet dabei sämtliche Müllcontainer nach Dokumenten und privaten Schriftstücken.
Entstanden ist daraus letztlich ein autobiographischer und poetologischer Werkstattbericht, in dem Geiger dem Ursprung nicht nur seines, sondern allen Schreibens auf den Grund geht. Dass Geiger das Ganze auch noch mit einer gehörigen Portion Humor und Witz versieht, macht das Buch zu einem unterhaltsamen und sympathischen Leseerlebnis – ein fabelhafter Einblick in den Alltag eines angehenden Schriftstellers.
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Behzad Karim Khani: Hund, Wolf, SchakalRoman, Hanser 2022
Khani legt mit seinem Debüt Hund, Wolf, Schakal eine rasante Gangstergeschichte vor, in der er über die komplizierten Schicksale derer berichtet, die ansonsten nur kaum Platz haben in der deutschsprachigen Literatur. Eine radikale und aufrüttelnde Geschichte, die jedoch aufgrund ihres lakonischen und poetischen Stils für gute Unterhaltung sorgt.
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Linda Boström Knausgård: OktoberkindRoman, Schöffling 2022
Das eigene Leben als literarischen Stoff, diesem bedient sich auch Linda Boström Knausgård in ihrem aktuellen Roman Oktoberkind. Ein Rückblick auf ein Leben, das bereits zu ihrer Kindheit durch eine bipolare Störung und dem Gefühl der Verlorenheit geprägt war. Darüber hinaus blickt sie zurück auf ihre eigene Mutterschaft, ihre eigene Familiengeschichte, ihr Leben am Land, das Schreiben, vor allem aber blickt sie zurück auf ihre Rolle als Frau neben einem weltberühmten Schriftsteller: Karl Ove Knausgård.
Auf gut 200 dichten Seiten entwirft Knausgård ein bedrückendes und zugleich beeindruckendes Panorama ihres eigenen Lebens, in dem sie den Gründen und Ursachen ihres Scheiterns, aber auch den glücklichen Momenten in ihrem Leben nachspürt.
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Elfriede Jelinek: Angabe der PersonRowohlt 2022
Nun hat es also die deutsche Steuerfahndung getroffen, die Wut der Elfriede Jelinek. In ihrem neuen autofiktionalen Roman Angabe der Person wendet sich die Nobelpreisträgerin gegen das deutsche Finanzamt, das aufgrund des Vorwurfes der Steuerhinterziehung eine Hausdurchsuchung bei der Autorin in München veranlasste.
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Bette Westera / Sylvia Weve: Auseinander
Gedichte, Susanna Rieder 2022
In ihrem neuen Gedichtband Auseinander greift die niederländische Autorin Bette Westeras das wohl bedeutendste Thema der Literaturgeschichte auf: die Liebe. Sie erzählt aber weniger vom Glück der Liebe als vielmehr von der Traurigkeit nach dem Ende einer Beziehung – und hier insbesondere jene der eigenen Eltern.
Was geschieht mit Kindern, wenn sich die Eltern trennen? Wie finden sich die Kinder mit der ungewohnten Situation zurecht? Und wie kann man Kindern trotz neuer Familienkonstellation jene Liebe zukommen lassen, die sie brauchen?
Und so wechseln sich in Westeras Gedichtband Frust und Traurigkeit mit Hoffnung ab. Manchmal schwingt aber auch ein wenig Sarkasmus mit, der insbesondere durch die collageartigen Illustrationen von Sylvia Weve immer wieder eine gewisse Heiterkeit und Leichtigkeit versprühen.
Ein Buch über die Liebe, wie sie entsteht, wie sie vergeht, aber auch, wie man sie erkennt und weitergibt, das ist der neue Lyrikband von Bette Westera.
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Ingeborg Bachmann / Max Frisch: Wir haben es nicht gut gemacht. Der Briefwechsel
Piper / Suhrkamp 2022
Ein wunderbarer und intimer Briefroman aus dem echten Leben, der ein überraschendes Bild der Beziehung zwischen Bachmann und Frisch zeichnet und tradierte Bewertungen und Schuldzuweisungen infrage stellt.
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Karl Ove Knausgård: Der Morgenstern
Luchterhand 2022
Ein großartiger Roman über Leben und Tod, Glauben und Wissen und den Umgang mit dem Untergang der menschlichen Existenz. Für Februar des kommenden Jahres ist die Fortsetzung unter dem Titel Die Wölfe aus dem Wald der Ewigkeit angekündigt.
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Cormac McCarthy: Der Passagier / Stella Maris
Rowohlt 2022
Über gleich zwei neue Romane von Cormac McCarthy darf sich die Literaturwelt freuen: Der Passagier und Stella Maris handeln von einem über mysteriöse Wege verschlungenen und verbundenen Geschwisterpaar: Alicia und Bobby. In Der Passagier folgen wir Bobby (seines Zeichens Bergungstaucher mit Tiefenangst), der ein Flugzeugwrack samt Leichen birgt. Währenddessen arbeitet sich in Stella Maris die geniale Mathematikerin Alicia in der Psychiatrie am Erbe der Eltern ab, die beide am Bau der Atombombe mitgewirkt haben und erhellt damit die Hintergründe zu einem nahezu kafkaesken Agententhriller mit furiosen Finale. Zwei Romane, eine atemberaubende Geschichte über Moral und Wissenschaft, über Erbe und Schuld.
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Dominik Barta: Tür an Tür
Roman, Hanser 2022
Kurt ist Anfang dreißig und hat soeben einen neuen Lebensabschnitt begonnen, hat eine Anstellung als Lehrer und seine erste kleine Wohnung gefunden. In dieser findet er sich anfangs jedoch nur sehr schwer zurecht.Doch als nach einer gescheiterten Beziehung sein bester Freund bei ihm einzieht und einer seiner Schüler plötzlich Hilfe benötigt und bei ihm Zuflucht sucht, wird ihm allmählich bewusst, was Familie und Nachbarschaft bedeutet.
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Bob Dylan: Die Philosophie des modernen Songs
Sachbuch, C.H. Beck 2022
Die Auszeichnung Bob Dylans mit dem Literaturnobelpreis sorgte 2016 für teils große Kontroversen. Nun hat der US-amerikanische Singer-Songwriter und Lyriker ein neues Buch vorgelegt, in dem er nicht auf sein eigenes Werk zurückblickt, sondern auf rund 60 Songs, die sein Schaffen nachhaltig beeinflusst haben.
In lockerem und trotzdem tiefsinnigen Plauderton schreibt Dylan über die gemeinschaftsbildende Kraft von Songs, den Songwriting-Prozess und über die Entstehungs- und Rezeptionsgeschichte der bekanntesten Songs der Musikgeschichte. Ein wunderbares Geschenk nicht nur für Musikliebhaber.
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Arno Camenisch: Die Welt
Roman, Diogenes 2022
Ein Mittvierziger steht auf seiner Terrasse und blickt auf sein Leben zurück als er in seinen Zwanzigern war: Es waren die Jahre nach der Jahrtausendwende.
Arno Camenischs neuer Roman Die Welt liest sich wie ein Gegenentwurf zu seinen bisherigen Romanen, die allesamt in der engen Welt der Schweizer Berge angesiedelt sind. Nun lässt er einen melancholischen und überdrüssigen Ich-Erzähler um die Welt reisen und beschwört dabei den Lustmoment zwischen Aufbruch und Ankommen.
Auf wunderbar lapidare und verdichtete Weise schreibt er gegen feste Strukturen und für die Liebe zur großen weiten Welt an.Buch ausleihen oder reservieren
Helena Adler: FrettenRoman, Jung und Jung 2022
"Fretten" lautet der Titel des neuen Romans der Salzburgerin Helena Adler. Und der Titel des Buches ist Programm; denn die junge Protagonistin in Adlers Roman muss sich plagen, sich abmühen. Sie ist die jüngste Tochter des sogenannten „Pleitebauern“, auf dessen Hof vier Generationen unter einem Dach wohnen.
Auf der Folie dieses eher kursorischen Plots erzählt Adler von den Schattenseiten und der Ambivalenz des Landlebens: Sie erzählt von alleinstehenden Hoferben, von Beichtgeheimnissen, die mehr oder weniger nicht eingehalten werden, von sozialer Kontrolle, von nichtsnutzigen und chauvinistischen Männern und missgünstigen Frauen. Wer hier aufwächst, scheint verloren; wer Frau ist, ist darüber hinaus verpflichtet, einzig und allein die Bedürfnisse anderer zu befriedigen – ein mutiger und sprachgewaltiger Antiheimatroman.
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Javier Marías: Tomás NevinsonRoman, Fischer 2022
Tomás Nevinson titelt also der letzte Roman des im September unerwartet verstorbene Javier Marías. Mit dem Spionageroman erzählt der große Spanier die Fortsetzung des vor etwa fünf Jahren erschienen Romans Berta Isla.
Javier Marías letzter Roman ist eine Abrechnung mit dem Terrorismus und eine Auseinandersetzung mit Fragen von Moral, Gewissen, Geschichte und Politik. Mit seinen brillant beschriebenen Charakteren und seinem unverwechselbaren Stil aus Rückblenden, Verweisen und essayistischen Abschweifungen (die nie zulasten der Spannung gehen) hat Marías eine großartige Eheerzählung über Lüge, Verrat und Betrug verfasst, die im Gewand eines Spionage-Thrillers steckt – ein mehr als würdiger Schlusspunkt hinter einer großen Schriftstellerkarriere.
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Elke Heidenreich: Ihr glücklichen AugenErzählungen, Hanser 2022
"Ihr glücklichen Augen", so titelt das neue Buch von Elke Heidenreich. Darin führt die in Köln lebende Autorin ihre Beobachtungen, die sie auf der Vielzahl ihrer Reise gemacht hat, zu einem kurzweiligen und empathischen Erzählband zusammen.
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Ilma Rakusa: Kein Tag ohneGedichte, Droschl 2022
"Kein Tag ohne", eine Art lyrisches Panoptikum der letzten beiden Krisenjahre; denn neben der Corona-Pandemie macht Rakusa auch die Wiedereroberung Kabuls durch die Taliban, die Niederschlagung der Demokratiebewegung in Belarus sowie den Krieg in der Ukraine zum Thema ihrer neuen Gedichte. Als Kosmopolitin und Expertin für Osteuropa lassen Rakusa die grauenhaften und schockierenden Ereignisse rund um den Globus nicht unberührt.
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Norbert Gstrein: Vier Tage, drei Nächte
Roman, Hanser 2022
Nach Als ich jung war (2019) und Der zweite Jakob (2021) hat Norbert Gstrein mit Vier Tage, drei Nächte nun den Schlusspunkt seiner Trilogie über dubiose Figuren Tiroler Herkunft gesetzt
Es geht um die unmögliche Liebe, um unerfüllbares Begehren, um Inzest und auch um patriarchalische Herrschaftsstrukturen und der daraus hervorgehenden Vaterhass. Und nicht zuletzt um die Rolle des Tiroler Tourismus in Zeiten der Coronapandemie. Hat man die etwas gefinkelte Struktur des Romans erst einmal durchschaut, entfaltet die Geschichte rund um Lebenslügen, Macht, Abgrund und Unterwerfung eine enorme Sogkraft.
Andreas Unterweger: So long, AnnemarieRoman, Droschl 2022
Andreas Unterweger erzählt voller Witz und Sprachlust vom Ende einer Liebe. Gekonnt und mit sehr viel Gefühl überblendet er dabei das Erleben seines Protagonisten mit der Literaturgeschichte. Entstanden ist daraus eine lustvolle Beschreibung des Selbstfindungsversuchs eines jungen Menschen, verpackt in einem klugen Bildungsroman.
Dörte Hansen: Zur SeeRoman, Penguin 2022
Nach den beiden Bestsellern "Altes Land" und "Mittagsstunde" hat Dörte Hansen unter dem Titel "Zur See" kürzlich ihren dritten Roman vorgelegt. Die Handlung spielt diesmal auf einer Nordseeinsel, im Zentrum steht die seit etwa 300 Jahren dort lebende Familie Sander. Die Sanders müssen sich nicht nur mit der Zerstörung der Umwelt, den Gewalten der Natur und dem Massentourismus herumschlagen, sondern sind dazu noch mit ganz persönlichen Kämpfen beschäftigt.
Peter Cameron: Was geschieht in der NachtRoman, Liebeskind 2022
Ein namenloses amerikanisches Ehepaar reist mit dem Zug in den hohen Norden Europas – ob es sich dabei um Schweden, Finnland oder Russland handelt, bleibt offen. Das Ehepaar will im dortigen Waisenhaus ein Kind adoptieren, nachdem eigene Kinder ausgeblieben sind und die Frau an Krebs erkrankt ist, was eine Adoption in den USA unmöglich macht.
Ein namenloses amerikanisches Ehepaar reist mit dem Zug in den hohen Norden Europas – ob es sich dabei um Schweden, Finnland oder Russland handelt, bleibt offen. Das Ehepaar will im dortigen Waisenhaus ein Kind adoptieren, nachdem eigene Kinder ausgeblieben sind und die Frau an Krebs erkrankt ist, was eine Adoption in den USA unmöglich macht. Dort lernen beide jeweils einen Mann kennen, der ihre Blicke auf sie selbst verändert: die Frau einen ortsansässigen Heiler, der sie wieder an Gesundung glauben lässt, der Mann einen niederländischen Geschäftsmann, der ihm homosexuelle Avancen macht.
Ein Beziehungsdrama als moderner Schauerroman: Dracula und Der Tanz der Vampire lassen grüßen.
Andrea Abreu: So forsch, so furchtlos
Roman, Kiepenheuer & Witsch 2022
Spanien präsentiert im Oktober als Gastland der Frankfurter Buchmesse seine literarische und kulturelle Vielfalt. Unter dem Motto "Sprühende Kreativität" werden in Frankfurt rund 200 Autoren und Autorinnen aus Spanien erwartet. Darunter auch eine der wohl aufregendsten jungen Stimmen des Landes: Andrea Abreu.
In ihrem Debütroman "So forsch, so furchtlos" erzählt die 1995 geborene Autorin die Geschichte zweier Mädchen, die ihren Sommer gemeinsam hoch oben im Norden Teneriffas, fernab der Touristenpfade verbringen.
Andrea Abreu ist mit "So forsch, so furchtlos" ein überaus beachtliches Debüt gelungen – eine schmerzhafte, wunderschöne und verstörende Geschichte über Freundschaft und das Erwachsenwerden, in einem von ökonomisch und sozialen Unsicherheiten geprägten Milieu. Unverblümt, in poetischen Bildern und vulgärem Slang schreibt Abreu gegen allgemeine Konventionen des Erwachsenwerdens an und macht damit deutlich, dass die persönliche und individuelle Entwicklung von jungen Menschen eine Welt ist, in die keiner Zutritt hat, selbst die beste Freundin nicht.
Négar Djavadi: Die Arena
Roman, C. H. Beck 2022
Im Zentrum von Négar Djavadi jüngstem Roman "Die Arena" steht Benjamin Grossmann. Einst in einem Pariser Problemviertel aufgewachsen, hat er als Europachef des amerikanischen Streaming-Anbieters BeCurrent den sozialen Aufstieg geschafft. Doch als ihm eines Tages nach dem Besuch bei seiner Mutter sein kostbares Handy mit Privatnummern einiger Hollywoodgrößen abhandenkommt, gerät sein Aufstieg ins Wanken.
Davon ausgehend inszeniert Djavadi einen höchst spannenden Gesellschaftsroman über eine Weltstadt im radikalen Wandel – ein Porträt eines Landes, das vor scheinbar unlösbaren Aufgaben steht: die sozialen Gegensätze, der Einfluss der islamistischen Prediger, die schwindende Anerkennung von staatlichen Institutionen, Hass, Gewalt und Rassismus. Und die Hilflosigkeit der meisten Politiker, diese Gemengelage einigermaßen zu beherrschen. Die große Stärke des Romanes ist es jedoch, dass es keine eindeutig Bösen oder Guten gibt. Djavadi klagt nicht an, macht die Politik oder die Elite nicht zu den einzigen Verantwortlichen für die Misere. Sie zeigt Missstände auf und stellt sie zur Diskussion und Disposition.
Nicht zuletzt ist Die Arena auch ein Roman, der sich mit der Macht der Bilder im Netz auseinandersetzt, mit der immer stärker werdenden Manipulation von Realität in den sozialen Medien – ein mitreißender Roman aus dem Hier und Jetzt.
Diego Zūñiga: Camanchaca
Roman, Berenberg 2022
Ein Vater macht sich mit seinem zwanzigjährigen Sohn auf eine mehrtägige Reise von Santiago de Chile zu einem Ort an der peruanischen Grenze. Der Grund: ein Zahnarztbesuch. Im chilenischen Gesundheitssystem bleibt ein jeder auf der Strecke, der kein Geld hat. In Peru hingegen sind Kleidung und Ärzte noch halbwegs bezahlbar.
Diego Zúñiga berichtet in Camanchaca jedoch von keinem herkömmlichen Familien-Raodtrip. Vielmehr erzählt er in fragmentarischen Erinnerungen aus der Perspektive des Sohnes, der nicht nur zahnkrank, sondern auch fettleibig ist, von einer beschädigten Jugend in einem beschädigten Land; denn der Vater hat ihn und die Mutter längst für eine neue, jüngere Frau verlassen.
In lakonisch-trockenem Ton und psychologischer Tiefe berichtet Zúñiga über die beeindruckende Geschichte eines jungen Mannes auf dem Weg aus der sozialen Benachteiligung und beweist damit, dass er zu Recht als eine der größten literarischen Hoffnungen Chiles gehandelt wird.
Alex Capus: Susanna
Roman, Hanser 2022
Für seinen neuen Roman hat sich der 1961 in der Normandie geborene Schriftsteller Alex Capus eine bemerkenswerte Frauenfigur ausgesucht, die tatsächlich gelebt hat: Susanna Carolina Faesch, die sich später als Malerin Caroline Weldon nannte. Sie wurde 1844 in Kleinbasel als Tochter einer wohlhabenden Familie geboren.
Alex Capus hat mit Susanna eine packende Lebens- und Emanzipationsgeschichte nach wahren Begebenheiten geschrieben. Vor dem Hintergrund der gravierenden gesellschaftlichen Umbrüche am Übergang ins 20. Jahrhundert porträtiert er eine Frau, die nicht gewillt ist zu akzeptieren, dass sich unschuldige Menschen zugunsten des Fortschrittes opfern müssen.
Kerstin Becker: Das gesamte hungrige Dunkel ringsum
Gedichte, Edition Azur 2022
Die 1969 in Sachsen geborene Autorin Kerstin Becker hat kürzlich unter dem Titel Das gesamte hungrige Dunkel ringsum ihren dritten Gedichtband vorgelegt und nimmt uns mit auf eine Reise zu den morbiden Abgründen der Welt: Betrunkene schwanken lallend durch die Nacht, andernorts kochen alte Männer Knochen, während ringsum allerlei tote Seelen auf den Straßen liegen.
Die neuen Gedichte Kerstin Beckers – geprägt von einem ständigen Unbehagen – erinnern in ihrem Ton stark an die melancholisch weltverneinende Lyrik am Übergang vom 19. ins 20. Jahrhundert. So hat man das Gefühl, dass ab und an Georg Trakl oder Charles Baudelaire zwischen Versen Beckers hervorblinzeln.
Und dennoch: Das Dasein birgt auch schöne Erfahrungen. Sie schwanken zwischen Sehnsucht und Ernüchterung, zwischen Lust und Verlust und nicht zuletzt zwischen Leben und Tod. Zusammengehalten wird dies alles von einem sicheren Umgang mit Klang, Rhythmus, Reim und metaphorisch-bildhafter Sprache – ein Genuss!
Evelyn Schlag: In den Kriegen
Roman, Hollitzer 2022
Man kann getrost sagen: Evelyn Schlag hat in diesem Frühjahr das Buch der Stunde vorgelegt. "In den Kriegen" titelt es und spielt vor dem Hintergrund des seit 2014 andauernden Konfliktes in der Ukraine. Jens und Iwo, zwei deutsche Söldner, die aufseiten der Ukraine kämpften, machen sich gemeinsam mit Tanja, der Witwe eines gefallenen ukrainischen Soldaten, und dem abenteuerlustigen Dichter Vitalij zu Fuß auf den Weg in Richtung der 2014 von Russland annektierten Halbinsel Krim. Das Ganze garniert Schlag mit popkulturellen Anspielungen und Bezügen.
Auf einer zweiten Zeitebene erzählt der Roman von den Gräueltaten, die Nazi-Deutschland nach dem Überfall auf Polen 1941 auf dem Gebiet der heutigen Ukraine verübte. Die Autorin webt Details kunstvoll in ihren Roman ein und erzählt damit nicht nur von der Reise ihrer Protagonist:innen, sondern unternimmt darüber hinaus eine Reise in die Geschichte der Ukraine.
Kenneth Moe: Rastlos
Residenz 2022
"...dann sieht die Decke auf mich herab, gleichgültig und erduldet das alles mit niederschmetternder Ruhe.“ So klingt es, wenn sich der junge Ich-Erzähler in Kenneth Moes Debüt daran versucht, die Trennung von seiner Freundin zu verarbeiten.
Tagelang schließt er sich in seinem Zimmer ein – auf dem Bett liegend, im Sessel sitzend, – grübelt und verliert sich in Erinnerungen an die Beziehung, an seine Kindheit. Am Höhepunkt seiner Verlusterfahrung erscheint jedoch ein Licht am Ende des Tunnels: die Literatur. Erst das Niederschreiben des Erlebten setzt ein Erkenntnisprozess in Gang.
Kenneth Moe hat mit "Rastlos" einen äußerst modernen und zärtlichen Liebesroman geschrieben – ironisch und melancholisch zugleich.
David Diop: Reise ohne Wiederkehr
Aufbau 2022
Nach seinem mehrfach ausgezeichneten Roman "Nachts ist unser Blut schwarz" hat David Diop erneut ein Kapitel der senegalesischen Kolonialgeschichte zum Thema seiner Literatur gemacht. Diesmal beleuchtet er den Sklavenhandel, den die französische Kolonialmacht im 18. Jahrhundert von der Küste Senegals aus betrieb.
Das Ganze verpackt er in eine wunderbar (knapp am Kitsch vorbeischrammende) tropische Abenteuer- und Liebesgeschichte zweier Menschen, die kulturelle und ideologische Grenzen zu überwinden versuchten. David Diop erweist damit einem Mann Hommage, der den Kolonialismus und den Sklavenhandel vor seiner Zeit infrage stellte.
Teresa Präauer: Mädchen
Wallstein 2022
Teresa Präauer widmet ihr Buch einer Figur, die bisher in ihrem Werk zu kurz gekommen ist, dem Mädchen. Was heißt es eigentlich, ein Mädchen zu sein, wie wachsen sie auf? Und wie steht es grundsätzlich um die glitzernde Mädchenwelt? Haben Mädchen heutzutage wirklich mehr Freiheiten als früher?
Ausgehend von diesen Fragen zieht Teresa Präauer ihre Linien. So erzählt sie nicht nur aus ihrer eigenen Kindheit, über Mädchenbanden und Bubenspiele, über Zugehörigkeit und Abgrenzung, über die Schwierigkeit und das Glück des Heranwachsens; sondern spannt den Faden ihrer Überlegungen von einer Reflexion des Begriffs über kulturgeschichtliche Betrachtungen bis hin zu Darstellungen des Mädchens in Kunst und Literatur.
Ein schmales, wenngleich reichhaltiges Büchlein und ein kluger, persönlicher Essay über Geschlechterbilder.
Wilfried Steiner: Schöne Ungeheuer
Roman, Otto Müller 2022
Wilfried Steiners neuer Roman führt uns nach Genf in das Kernforschungszentrum CERN. Dort sind die klügsten Köpfe aus allen Teilen der Welt damit beschäftigt, den Aufbau von Materie zu ergründen. Doch Steiner will uns mit diesem Setting weniger über die Relativitätstheorie oder gar die Rätsel um die Entstehung unserer Welt erzählen; vielmehr wählt er dieses, um seiner Leserschaft die Überheblichkeit des Forschergeistes näherzubringen und gleichzeitig in die Abgründe emotionaler Besessenheit blicken zu lassen.
Eine äußerst spannende Kriminalgeschichte, die ein hoch entwickeltes und von Konkurrenz geprägtes naturwissenschaftliches Milieu unter die Lupe nimmt.
Federico Italiano: Sieben Arten von Weiß
Gedichte, Edition Lyrik Kabinett 2022
Fein beobachtet und ebenso fein umgesetzt ist die Lyrik von Federico Italiano, einzigartig komponiert und ebenso nachhaltig im Eindruck. "Sieben Arten von Weiß" ist ein wunderbarer und locker zu lesender Gedichtband, glänzend übersetzt von Raoul Schrott und Jan Wagner
Reinhard Kaiser-Mühlecker: Wilderer
Fischer 2022
Reinhard Kaiser-Mühlecker hat seine Romanreihe rund um Oberösterreich fortgesetzt. In "Wilderer" erzählt der Autor diesmal die Geschichte des Landwirten Jakob. Dieser führt nach der Übernahme des elterlichen Hofes ein karges Leben zwischen monotoner Arbeit, Tinder und Selbstmordgedanken. Erst als sich die Kunststipendiatin Katja anbietet, scheinen sich die Dinge zum Guten zu wenden. Doch Jakob findet keine Ruhe, sein immer wieder aufkommender Jähzorn steht seinem Glück im Wege. Er fragt sich, „ob sein Leben anders verlaufen wäre, wäre er anderswo aufgewachsen. Ob er ein anderer geworden wäre in einer anderen Gegend als seiner.“
Ein überzeugender Roman über Herkunft und existentieller Verlorenheit in einer Welt, die sich in einem radikalen Wandel befindet.
Delphine de Vigan: Die Kinder sind Könige
Dumont 2022
Delphine de Vigan erzählt einen spannenden Kriminalroman, der den Blick auf aktuelle gesellschaftliche Missstände im digitalen Zeitalter schärft. Geschickt verbindet die Autorin Recherchen und Polizeiprotokolle mit einer auf verschiedenen Zeitebenen spielenden Kriminalgeschichte mit unverblümter Kritik an den sozialen Medien, an medialer Selbstinszenierung und -vermarktung sowie an Eltern, die ihre Kinder zugunsten der eigenen Karriere instrumentalisieren.
Judith W. Taschler: Über Carl reden wir morgen
Zsolnay 2022
Über Familien und das Familienleben gibt es viele großartige Romane. An diesem hat sich nun auch die in Tirol lebende Judith W. Taschler in ihrem neuen Roman versucht. Eine groß angelegte Familiensaga über drei Generationen in der Mühlviertler Provinz zwischen dem frühen 19. und dem beginnenden 20. Jahrhundert.
Mit ungemeinem Gespür für ihre Figuren beschreibt Taschler wie Entscheidungen früherer Generationen den Schatten auf die folgenden wirft. Dadurch ergibt sich eine gut durchdachte und akkurat recherchierte Familiengeschichte mit Intrigen, Skandalen und spannenden Wendungen. Großes Kino mit nur kleinen Schwächen.
David Foster Wallace: Schrecklich amüsant – aber in Zukunft ohne mich
Mareverlag 2002
Im Auftrag des Harper´s Magazin hat sich der damals 33-jährige David Foster Wallace (Autor des Kultbuches Unendlicher Spaß) für eine Woche auf das Kreuzfahrtschiff Zenith gewagt, um für dasselbe eine Reportage zu schreiben. Entstanden ist daraus ein hochkomischer wie skurriler Reisebericht über den ganz normalen Wahnsinn an Bord eines modernen Luxusdampfers.
Ein Buch ans Herz gelegt für alle jene, die selbst daran denken, eine Kreuzfahrt zu unternehmen – man sei gewarnt.
Christoph W. Bauer: an den hunden erkennst du die zeiten
Gedichte, Haymon 2022
Der Tiroler Christoph W. Bauer fühlt sich gleich in mehreren Gattungen zu Hause. Er schreibt Romane, Gedichte, Erzählungen, Drama, Kinderbücher und Hörspiele. Mit an den hunden erkennst du die zeiten liegt nun sein mittlerweile siebenter Gedichtband vor.
Bauers virtuoser Umgang Bauers mit der Sprache regt einen sowohl zum Schmunzeln als auch zum Nachdenken an.
Markus Gasser: Die Verschwörung der Krähen
C. H. Beck 2022
London um 1700 – eine Stadt droht in grausamen Verbrechen und korrupten Machenschaften unterzugehen. Bis ein aufmüpfiger Journalist gegen die offensichtlichen Missstände aufbegehrt: Daniel de Defoe. Als erster investigativer Journalist deckt er Korruption und politische Intrigen auf, kämpft um Wahrheit und Meinungsfreiheit.
Markus Gasser entwirft basierend auf historischen Ereignissen einen spannenden und rasanten Abenteuerroman um Verbrechen und Fake News. Der in Bregenz geborene Literaturwissenschaftler und Kritiker erweckt eine vergangene Welt zum Leben, die der unseren auf erschreckende Weise ähnlichsieht: Privilegien und Machtmissbrauch, Seuchen und Sündenböcke, Paranoia und Verschwörungstheorien beherrschen den Alltag.
Die Verschwörung der Krähen: ein politischer Krimi, ein Zeitporträt, aber auch ein akribisch recherchierter Abenteuerroman, der die Geschichte eines investigativen Journalisten der ersten Stunde erzählt.
Verena Rossbacher: Mon Chéri und unsere demolierten Seelen
Kiepenheuer & Witsch 2022
Charly Benz ist 43 Jahre alt und fühlt sich wie eine Frau, deren Zeit abgelaufen scheint. Auch in Sachen Beziehung läuft es für Charly seit Längerem mehr schlecht als recht; denn sie hat keine. Einzig zu Herrn Schabowski, einem sechzigjährigen Mann, pflegt sie eine väterliche Freundschaft.
Doch als Herr Schabowski aus heiterem Himmel eine tödliche Diagnose erhält, ihr erster Versuch einer Familienaufstellung in einer Katastrophe endet und gleich drei Männer ihr Leben völlig durcheinanderbringen, verliert Charly völlig die Orientierung. Diese muss sie jedoch bald wieder finden; denn sie ist schwanger.
In ihrem vierten Roman erzählt die in Bludenz geborene Autorin auf literarisch hinreißende Weise und mit unbändigem Witz die Geschichte einer Frau, die an den herkömmlichen Lebenskonzepten der Gesellschaft zu scheitern droht, bis sie lernt, eigene Wege zu gehen.
Natasha Brown: Zusammenkunft
Roman, Suhrkamp 2022
Sie ist jung, schwarz, selbstsicher und talentiert. Die namenlose Ich-Erzählerin in Natasha Browns Debüt-Roman Zusammenkunft ist aber vor allem eines, hart arbeitend. Die Tochter jamaikanischer Einwanderer hat sich von den prekären sozialen Verhältnissen ihrer Vorfahren emanzipiert und sich in die britische Upperclass hochgearbeitet.
Wer hinter diesem Plot die Erfolgsgeschichte einer jungen schwarzen Frau vermutet, liegt fehl. Zu sehr ist der Alltag der Ich-Erzählerin geprägt von Entmenschlichung, sexueller Belästigung, offenen Anfeindungen und Rassismus. Hinzu kommt der Druck der eigenen Erwartung. Der Druck, den Anstrengungen ihrer Vorfahren – die so sehr gelitten haben, um ihr die Chance auf ein besseres Leben zu ermöglichen – nicht gerecht zu werden.
Nicht linear, sondern auf szenische Weise entlarvt Natasha Brown in "Zusammenkunft" das britische Klassensystem sowie den heuchlerischen Umgang mit Ethnie, Immigration und Genderpolitik. Bruchstückhaft mit essayistischen und poetischen Einschüben erzählt Brown von den Anstrengungen unserer Gegenwart und der Last der Vergangenheit. Doch das schmale Büchlein erzählt nicht die ganze Geschichte der Ich-Erzählerin, lässt Leerstellen, schafft Freiräume für eigene Interpretationen, und tut damit genau das, was Literatur soll: zum Denken anregen.
Abbas Khider: Der Erinnerungsfälscher
Roman, Hanser 2022
Said Al-Wahid trägt seinen Reisepass ständig bei sich, selbst im Supermarkt, beim Ausgehen oder bei der Arbeit. Auch als der Schriftsteller, der mit seiner deutschen Frau und dem gemeinsamen Sohn in Berlin lebt, nach einer Lesung erfährt, dass seine Mutter in Bagdad im Sterben liegt. Nach vielen Jahren in Deutschland macht sich Said deshalb auf den Weg nach Bagdad und erinnert sich dabei an die Stationen seiner eigenen Flucht.
Letztlich erzählt Abbas Khider vom Leben in der Fremde, aber auch von der Geschichte eines Autors; denn Said möchte Schriftsteller werden. Doch das Erinnern fällt ihm schwer, ihm fehlen die Zusammenhänge seiner Vergangenheit. Ganze Zeiträume scheinen für immer verschwunden zu sein.
Abbas Khider zeigt in "Der Erinnerungsfälscher", wie Krieg, Folter und Verlust einen Menschen nachhaltig prägen und wie absurd und komisch das Leben trotz alledem dennoch sein kann. Trotz des schmerzhaften Untertons, ein ergreifender wie lebensbejahender Roman.
Kundeyt Şurdum: Hier endet die Fremde
Werkausgabe, Sonderzahl 2022
Der im türkischen Konya geborene Schriftsteller Kundeyt Şurdum (1937–2016) gilt als eine der wertvollsten und frühesten Stimmen der deutsch-türkischen Literatur. 1971 von der Türkei nach Österreich, genauer gesagt nach Vorarlberg ausgewandert, hinterließ er mit seiner Lyrik nachhaltige Spuren in der dortigen Literaturlandschaft. Er wurde zur Vorzeigefigur kulturübergreifenden Austausches, zu einem Autor der Migration und Mehrsprachigkeit. In Şurdums Versen durchdringen sich Lebenszeichen mediterraner Kultur mit der deutschen Sprache. Seine Gedichte sind lyrische Inszenierungen des Dazwischen, der Brüchigkeit des Seins zwischen den Kulturen, Gesellschaften und Sprachen.
Die nun im Wiener Sonderzahl-Verlag erschienene Werkausgabe "Hier endet die Fremde" macht das längst vergriffene Werk des vor rund sechs Jahren verstorbenen Dichters erstmals gesammelt zugänglich und umfasst sämtliche Gedichte, Hörspiele, Reden sowie Prosatexte Kundeyt Şurdums.
Ronja von Rönne: Ende in Sicht
dtv 2022
Hella, 69, hat beschlossen, ihrem Leben endgültig ein Ende zu setzen – in einem Krankenhaus in der Schweiz. Also macht sie sich in ihrem klapprigen Passat auf ihre letzte Reise. Sie scheint ihr „Ende in Sicht“ zu haben. Doch nicht lange auf der Autobahn angekommen, fällt ihr etwas vor die Motorhaube ihres alten Wagens: Es ist die fünfzehnjährige Juli, die sich gerade von einer Autobahnbrücke in den Tod stürzen wollte. Jetzt ist der lebensmüde Teenager nur leicht verletzt und steigt zu Hella ins Auto; eine schicksalhafte Begegnung und der Ausgangspunkt eines gemeinsamen Roadstrips durch Westdeutschland, anhand dessen Von Rönne die Geschichte zweier suizidaler Frauen erzählt.
Das ungleiche Paar ist sich nicht auf Anhieb sympathisch, fasst jedoch im Laufe der Zeit immer mehr Vertrauen zueinander und lässt bisweilen auch gegenseitige Nähe zu. Sie beginnen dadurch zu verstehen, dass es auch die Möglichkeit gibt, vor dem Tod noch etwas zu leben.
Diese Entwicklung beschreibt Ronja von Rönne äußerst zart, berührend und gleichzeitig humorvoll lakonisch. Ein launiger Road-Trip-Roman, in dem es um das Scheitern im Leben, um Depressionen und Suizid geht.
Jonathan Franzen: Crossroads
Rowohlt 2021
Konventionell, aber mit einem ungemeinen Gespür für seine Figuren, porträtiert Franzens eine Familie am Scheideweg, am Crossroad. So treffen wir in Franzen Roman auf eine Familie, deren Mitglieder darum kämpfen, gute Menschen zu sein, was ihnen jedoch allesamt misslingt. Es geht um Sehnsucht und Geschwisterliebe, aber auch um Lügen, Geheimnisse und Rivalität, um Schuld und Sühne.
Trotz der etwas herkömmlichen und redundanten Erzählweise, die bisweilen wenig Platz lässt für eigene Gedanken, entwickelt der Roman einen ungemeinen Sog und zählt daher zu einem der größten literarischen Ereignisse des vergangenen Herbstes.
Michel Houellebecq: VernichtenDumont 2022
Vernichten titelt das neue Werk des umstrittenen und provokanten Franzosen. Wir befinden uns im Frankreich der nahen Zukunft – im Wahlkampf 2027. Die Welt scheint am Abgrund. Houellebecq hat mit Vernichten erneut einen provokanten und zutiefst europäischen Gesellschaftsroman geschrieben, in dem er den Zynismus des politischen Systems des Westens seziert. Provokant deshalb, weil er die Welt genau so beschreibt, wie er sie sieht; und viele Leser den Gedanken kaum ertragen können, es könnte vielleicht wirklich so sein. Er bringt die Tragödie der menschlichen Existenz immer wieder auf den Punkt, zeigt aber in Vernichten auch, was halt gibt in seiner Welt.
Kim Thúy: Großer Bruder, kleine SchwesterKunstmann 2021
Die vietnamesisch-kanadische Autorin Kim Thúy erzählt in ihrem jüngsten Roman »Großer Bruder, kleine Schwester« die Geschichte von Louis und Emma-Jade, die sich in Vietnam als Kinder sowie später als Erwachsene in den USA begegnen. Ausgehend und inspiriert von der sogenannten »Operation Babylift«, bei der 1975 Tausende Kinder US-Amerikanischer Soldaten ohne ihre Eltern ins Ausland geflogen wurden, erzählt Thúy vom Schicksal ebendieser Menschen. So berichtet sie in knappen und atmosphärischen Momentaufnahmen nicht nur von den Erniedrigungen, die Vietnam im 20. Jahrhundert als Spielball westlicher Großmächte erfahren musste, sondern auch von der Suche nach Identität und Zugehörigkeit entwurzelter, aus dem Krieg geborener Kinder.
Ein aufrüttelnder, aber zugleich umwerfend sinnlicher Roman über ein trauriges Kapitel vietnamesischer Geschichte. Und ein Roman, welcher der Frage nachgeht: »Wohin gehört man, wenn man nicht weiß, woher man kommt?«, wie der Verlag treffend formuliert.
Paul McCartney: Lyrics. 1956 bis heute. Herausgegeben mit einer Einleitung von Paul Muldoon.
C. H. Beck 2021
„Wenn Leute erst einmal ein gewisses Alter erreicht haben, greifen sie gerne auf Tagebücher und Terminkalender zurück, erinnern sich Tag für Tag an vergangene Ereignisse, aber solche Aufzeichnungen habe ich nicht,“ schreibt Paul McCartney im Vorwort zu seinem Buch »Paul McCartney. Lyrics. 1956 bis heute«. Was Paul McCartney hat, das sind seine Songtexte, und im Grunde erfüllen diese denselben Zweck: Sie lassen sein Leben nacherleben. 154 Songs, die einen Zeitraum von 64 Jahren in McCartneys Leben umspannen – von seinen ersten Anfängen als Songwriter in Liverpool über die historischen Jahre als Beatle bis hin zu seiner langen Solokarriere, geben den Blick auf ein ereignisreiches Künstlerleben frei. Eine fast unvergleichbare Bandbreite an Liedtexten bilden ein Panoptikum, in dem McCartney die Entstehungsgeschichten seiner Songs schildert, über Menschen und Orte spricht, die ihn beeinflusst haben; und wie er heute darüber denkt.
Umrahmt wird all dies von autobiographischen Kommentaren, Manuskripten, Briefen und Fotografien aus dem persönlichen Archiv des Musikers – viele davon bisher unveröffentlicht. Auf diese Weise ist ein bisher nahezu einzigartiges Musiker-Memoire entstanden, das Paul McCartneys Persönlichkeit und Werk auf jeder Seite spürbar macht. Ein Leben in Songs – berührend offen, bezaubernd schön.
Klaus Pohl: Sein oder nicht seinGaliani 2021
1999 spielte Klaus Pohl an der Seite von Angela Winkler den Horatio in Peter Zadeks legendären Hamlet-Inszenierung bei den Wiener Festwochen. Die Notizen, die Pohl damals während der Probezeit in Straßburg verfasste, hat er nun zu einem wunderbaren Roman, zu einem fiktionalisierten Tatsachenbericht geformt. Darin berichtet Pohl unterhaltsam und humorvoll über ein „Familienfest“ – wie er schreibt – voller Krisen, Alkoholexzessen und Skurrilitäten. Vor allem aber berichtet er über den kompromisslosen Umgang Peter Zadeks mit seinen Schauspielern, den Fluchten von Angela Winkler vor sich selbst und der Rolle des Hamlet, aber auch von gegenseitiger Hilfestellung in ernsten Momenten.
Klaus Pohl hat mit seinem Theaterroman eine Hommage an das Theaterspielen und an den früh verschiedenen Schauspieler Ulrich Wildgruber verfasst. »Sein oder nicht sein« ist ein feinfühliger und poetischer Roman, der einen unverfälschten Blick hinter die Kulissen des Theatermachens eines herausragenden Regisseurs und prominenten Ensembles freigibt. Wer das Theater mag, wird dieses Buch lieben.
Alois Hotschnig: Der Silberfuchs meiner Mutter
Kiepenheuer & Witsch 2021
In ruhigem und nüchternem Ton erzählt Alois Hotschnig eine Geschichte über Herkunft und Identität, eine Geschichte über die schrecklichen Auswirkungen nichtaufgearbeiteter Vergangenheit. Und er erzählt auch ein Stück weit die Geschichte Vorarlbergs. Große Kunst und ein Plädoyer für das Erzählen, entgegen dem Schweigen.
Sally Rooney: Schöne Welt, wo bist du
Claassen 2021
Eigenwillig und in ironisch-lakonischer Sprache geht Rooney in ihrem nunmehr dritten Roman der Frage nach, was es heutzutage bedeutet politisch zu sein und wie man anderen Menschen angesichts der medialen Selbstinszenierungskultur noch nah sein kann. Ein tiefsinniger und feinfühliger Roman mit vielen literarischen Bezügen sowie einem kritischen Blick auf den zeitgenössischen Literaturbetrieb.
Anna Baar: Nil
Wallstein 2021
Die Ich-Erzählerin, eine Autorin von Fortsetzungsgeschichten bei einem Frauenmagazin, erhält von ihrem Chefredakteur die Aufgabe, ihre Liebesgeschichte schnellstmöglich zu einem Ende zu bringen, „meinetwegen indem sich das Paar ein Herz nimmt und von einer Klippe springt“. Eifrig versucht sich die Geschichtenerfinderin am Endszenario ihrer Serie. Doch anstatt ein Ende zu entwerfen, zögert sie dieses hinaus, verstrickt sich in eine Aneinanderreihung von Assoziationen, Gedanken und Erinnerung aus der eigenen Kindheit.
Dabei entwickelt sich eine verschlungene und bisweilen irritierende Erzählung, in der das erzählende Ich allmählich mit den von ihr selbst geschaffenen Romanfiguren verschwimmt. Eine poetische Selbstreflexion, ein literarisches Verwirrspiel, in dem die Grenzen zwischen Fiktion und Wirklichkeit miteinander verschmelzen. Indes scheint das Erfundene alles andere als harmlos; denn was, wenn sich das Geschriebene in der Zukunft bewahrheiten sollte? Was, wenn sich Ausgedachtes in die eigene Biografie einschreibt?
Zugegeben: Es gibt viele Bücher, die das Spannungsverhältnis von Fiktion und Realität, von Werk und Autor zum Thema haben. In dieser Bestimmtheit, gepaart mit einer leichten, heiteren Sprache sind sie aber eher selten. Nil ist ein forderndes, doch gleichsam erfrischendes literarisches Verwirrspiel, auf das man sich unbedingt einlassen sollte, dreht es sich doch auch um existentielle Fragen: Wer bin ich und wie mache ich mir die Welt erfahrbar? Bei Anna Baar ist es gewiss das Schreiben.
Dörte Hansen: MittagsstundePenguin 2018
Ingwer Feddersen, Archäologe und Dozent an der Kieler Universität, kehrt für ein Sabbatjahr zurück in seinen nordfriesischen Heimatort Brinkebüll, um sich dort um seine alternden Großeltern zu kümmern. Während Großmutter Ella immer stärker an ihrer Demenz leidet und Großvater Sönke mit diversen körperlichen Gebrechen zu kämpfen hat, regelt Ingwer die Angelegenheiten im familieneigenen Dorfgasthof. Dieser hat jedoch die besten Zeiten längst hinter sich, so wie auch das ganze Dorf; denn ausgehend von Ingwers „Bummel-Jahr“ – wie Großvater Sönke die Auszeit seines Enkels bezeichnet – wird in Rückblenden geschildert, wie sich die dörflich-agrarische Kultur des fiktiven Brinkebülls von der Nachkriegszeit an zusehends verändert, wie Flurbereinigung, Zuzug sowie die Schaffung von Monokulturen und Großbetrieben die verschworene Dorfgemeinschaft zerstören.
Nach ihrem überraschenden und preisgekrönten Debütroman Altes Land (2015) entwirft Dörte Hansen mit Mittagsstunde erneut einen facettenreichen Roman, in dem sie mit fein gearbeiteter poetischer Sprache den Strukturwandel eines Dorfes und seiner Bewohner beschreibt. Ohne Verklärung und Sentimentalität, doch mit sehr viel Witz und Ergriffenheit erzählt sie von Verlust und Neuanfang, vom Untergang bäuerlichen Idylls und der Verdrängung tragischer Momente eines Familienlebens am Land.
Tove Ditlevsen: Kopenhagen-Trilogie
Band 1: Kindheit.
Band 2: Jugend.
Band 3: Abhängigkeit.
Aufbau 2021Die dänische Autorin Tove Ditlevsen hat diese autobiografischen Bücher 1967 in ihrem Heimatland veröffentlicht. Und wiederum lässt sich eine große Autorin im deutschen Sprachraum nachträglich entdecken.
Tove wächst in den Zwanziger Jahren im Kogenhagener Arbeiter- und Armenmilieu auf. Ihre Mutter verlässt jede Stelle als Dienstmädchen nach den ersten Tagen, längstens Wochen, ihr Vater landet ebenfalls in der Arbeitslosigkeit. Früh keimt in ihr die Wahrnehmung, dass sie nicht dazugehört. Sie überlässt sich dem Traum, als Gedichte-Schreiberin Erfolg zu haben, und hält durch alle niederschmetternden Erfahrungen als ungelernte Arbeiterin, Haushälterin oder Bürokraft daran fest.
Eine kraftvolle, literarisch eigenständige und eigenwillige Autorin tritt uns entgegen.Furchtlos berichtet sie von ihrer ärmlichen, kulturfernen Herkunft, ihren ehelichen Irrwegen und schließlich ihrer Drogensucht. Hier ist eine Frau, deren Leben vom Schreiben abhing, und das atmet aus jeder Silbe. Wer sich auf sie einlässt, wird sie als wesentlichen Trittstein auf dem eigenen literarischen Pfad schätzen lernen.
Mithu Sanyal: Identitti
Carl Hanser Verlag 2021
Nivedita ist Bloggerin über Identität und Sex (daher der Titel des Buches). Und studiert Postcolonial Studies bei der indischen Professorin Saraswati in Düsseldorf. Und ist Tochter eines Inders und einer Polin in Deutschland. So viel ist schon mal sicher.
Da stellt sich heraus, dass die charismatische Saraswati eine gefakte Inderin ist und eigentlich Sarah Vera heißt. Und das ist für ihre nicht-weißen Studentinnen eine Todsünde, hat sie doch gerade erst deren Selbstbewusstsein auf raffinierte Weise aufgepäppelt. Ist die souveräne Wahl der dunkleren Hautfarbe Verrat an den ethnisch Diskriminierten? Oder die neue Spielart der Emanzipation, nachdem schon das angeborene Geschlecht in Selbstbestimmung überging?
Mithu Sanyal hat einen so witzigen, entkrampften und tabulosen Roman über Identitäten und Identitätsdiskurse geschrieben, dass sich kein vergleichbares Buch finden lässt. Der Jargon der Identitätspolitik rieselt nur so auf den Lesenden nieder und wird zugleich bis ins Kleinste zerpflückt, abgeklopft und zwischen Nivedita und ihrer indisch-britischen Cousine Priti schlagfertig hin und her gepingpongt.
Niemand muss davor Angst haben, weil der gnadenlose Humor alle Theorieschwere eliminiert. Aber eine gewisse Toleranz seiner eigenen szenespezifischen Unwissenheit gegenüber sollte man haben. Und unschwierige englische Passagen sollten kein Hindernis sein. Dann ist das Lesen das reinste Vergnügen!
Zelda Fitzgerald: Himbeeren mit Sahne im Ritz. Erzählungen
Manesse 2016
Zelda Fitzgerald war die Ehefrau und kongeniale Partnerin des amerikanischen Autors von „The Great Gatsby“ F. Scott Fitzgerald. Das Leben des amerikanischen Skandal-Ehepaars Fitzgerald galt als Verkörperung der Roaring Twenties. Opulente Parties an der Cote d’Azur, Alkohol in Strömen und luxuriöse Exzesse waren ihr Markenzeichen.
Zelda war eine begabte Schriftstellerin, deren Stil in den Büchern ihres Mannes wiedererkennbar ist. Offenbar waren die Manuskripte unter dem Namen ihres Mannes um ein Vielfaches teurer zu verkaufen. Ihre Erzählungen kreisen um starke, unabhängige Frauen, die Erfolg und Bestätigung suchen, dafür aber auch einen Preis bezahlen.
Ein gedanklicher Ausflug zu ausufernden sinnlichen Genüssen an der französischen Riviera kann im Sommer überhaupt nicht schaden. Dazu zerfließt Zeldas Sprachkunst einem auf der Zunge wie ein Zitronensorbet.
Wer Feuer gefangen hat: Zeldas und Scott Fitzgeralds Leben ist allein schon Stoff für wilde Romane, den zu verfolgen einem Schauer über den Rücken jagt. Tipp: Josephine Nicolas: Tage mit Gatsby. DuMont 2021
Sven Stricker: Sörensen hat Angst
Rowohlt 2015
Persönlicher Tipp von Ursula Poznanski: unterschätzter Autor!
Kriminalinspektor Sörensen lässt sich wegen einer Angststörung von Hamburg nach Nordfriesland versetzen. Gleich am Tag seines Dienstantritts wird er mit einem Mord im Pferdestall konfrontiert. Und das Opfer ist gleich noch der Bürgermeister. Da hilft es nichts: sein Team und er müssen schnell zusammenwachsen. Umso mehr als die Todesfälle weitergehen. Und der Steuerberater plötzlich auswandern will.
Hier stimmt einfach alles: das nordfriesische Milieu samt Schietwetter, der glaubwürdige Sonderling Sörensen, die Entwicklung des Falles in ungeahnte Dimensionen, das unter dem tot wirkenden Dorf liegende Geheimnis und ganz besonders der immer mitschwingende Witz mit köstlichen Sprachbildern.
Krimis, die gleichzeitig literarische Ansprüche befriedigen, sind eher selten. Hier könnte ein echter Geheimtipp daraus werden. Zur Weitergabe!
Übrigens verfilmt und immer wieder im Fernsehen ausgestrahlt mit dem „Tatortreiniger“ Bjarne Mädel als Regisseur und Hauptdarsteller. Sich mit dem Film zufriedenzugeben, wäre allerdings wirklich schade um diesen auch literarischen Leckerbissen!
Elif Shafak: Schau mich an!
Kein &Aber 2020
Was macht es mit uns, wenn wir angeschaut werden? Und wie wir angeschaut werden? Und warum schauen wir so gern selbst? Ist das Thema schon bei uns ein vielversprechendes, hat es im islamischen Kulturbereich noch eine zusätzliche Brisanz, wenn man an Erscheinungen wie den Bösen Blick denkt.
Elif Shafak, eine türkisch-englische Autorin, stellt ein wunderlich auffälliges Pärchen in den Mittelpunkt ihres Buches: eine unmäßig dicke junge Frau und einen Kleinwüchsigen. Sie bleibt dabei aber keineswegs stehen. Es werden fast eigenständige Geschichten eingefügt, die wie alte Sagen der mystischen Zeit wirken. Oder aus einer anderen Perspektive begreiflich machen, welche Wunden Gesehen-werden schlagen kann. Schönheit und Hässlichkeit, Scham, Ekel und Schaulust werden ausgeleuchtet. Teile eines „Lexikons des Sehens“ sind wie Zuckerstreusel darübergestreut.
Es fehlt dem Roman etwas an Stringenz und Logik. Das Panorama ist einfach zu breit. Und der zweite Teil des Romans ist deutlich stärker. Dennoch ein Augenöffner, was „Augenblicke“ richten und anrichten können und deshalb allen empfohlen, die Zugang bekommen zu sinnlichen, bildhaft-mystischen Schreibweisen, die weniger den logischen Verstand ansprechen.
Martin Mosebach: Krass
Rowohlt 2021
Ralph Krass ist ein steinreicher, machtbewusster Geschäftsmann. Und er schart gerne Leute um sich, die er großzügig zu kulinarischen und kulturellen Genüssen einlädt.
Zufällig läuft ihm die junge Lidewine über den Weg, eine Abenteurerin, die nur den Moment genießt.
Sein Sekretär Jüngel unterbreitet ihr einen Vorschlag: sie fügt sich als Begleiterin an seine Seite, enthält sich jeglichen erotischen Seitensprungs und wird dafür – ohne körperlich angerührt zu werden – finanziell ausgehalten.
Das Buch des 70-jährigen Büchner-Preisträgers Mosebach ist eine Studie oder vielmehr ein Kaleidoskop an Studien. Über Macht und Liebe, über Selbstvertrauen und das Verstreichen der Zeit. Weniger die Handlung steht im Vordergrund als die intensive, elaborierte Auseinandersetzung mit den menschlichen Grundthemen.
Einnehmend, sprachlich genussvoll und mit unvergesslichen Charakteren oder Szenen, nie aber mitreißend oder vorwärtsziehend. Für nachdenkliche Menschen, die ein feines Organ für die Umwandlung der Wirklichkeit in Sprache haben.
Yishai Sarid: Siegerin
Kein & Aber 2021
Bewaffnete Auseinandersetzungen zwischen Israel und den Palästinensern – eine schon in Gewohnheit übergegangene Nachricht. Der ehemalige israelische Nachrichtenoffizier Sarid hat hier einen Roman zum Innenleben des israelischen Militärs vorgelegt, der irritiert und irritieren will.
Abigail ist Militärpsychologin. Ihre Aufgabe und Leidenschaft ist es, Soldaten das Töten zu erleichtern. Zugleich ist sie die hingebungsvolle Mutter ihres Sohnes Schauli. Und dieser wird nun als Fallschirmjäger einberufen.
Der Roman hat eine große Kraft, ohne eine moralische Position zu vertreten. Wie kommt es, dass junge Männer, kaum den Pubertätspickeln entwachsen, auf gleichaltrige Menschen schießen, nur, weil diese als Feind deklariert sind? Und wie kommen sie damit zurecht?
Obwohl es einfache Antworten auf das Thema Krieg nicht gibt, ist dieser Roman ein Augenöffner. Er führt das hermetisch abgeschlossene Wertesystem einer kriegführenden Nation vor. Gedanken dazu muss sich jede/r selbst machen.
Ljuba Arnautović: Junischnee
Zsolnay 2021
Die Wiener Brüder Karl und Slavko machen 1934 einen Ausflug ins Grüne mit ihrer Mama. An einem abgelegenen Platz werden die Kinder Helfern übergeben. Abgesehen von einem sommerlichen Intermezzo auf der Krim, sieht nur einer von ihnen seine Mutter wieder – und dies erst nach über 20 Jahren.
Das Schicksal der zu ihrem Schutz in die Sowjetunion verfrachteten Kinder von österreichischen Kommunisten wird hier auf ergreifende Weise geschildert.
Lagerhaft, Besserungsanstalt, GULag warten auf Karl. Er kämpft sich durch Hunger, Kälte und Zwangsarbeit. Schließlich schafft er es in den Fünfziger Jahren nach Wien zurück und lädt dort schwere Schuld auf sich.
Arnautović hat ein packendes Stück Zeitgeschichte und zugleich die Geschichte ihrer eigenen Familie aufgearbeitet. Die klare Sprache, der lakonische Ton und die souveräne Erzählhaltung überzeugen in jeder Hinsicht. Das schmale Bändchen sei allen als Erweiterung des eigenen Horizonts ans Herz gelegt.
Matt Haig: Die MitternachtsbibliothekDroemer 2021
Nora Seed ist nicht gerade glücklich mit ihrem Leben: zu viele verpasste Chancen, zu viele gescheiterte Beziehungen. In dieser Situation wird ihr Job gekündigt und ihre Katze tot aufgefunden. Sie sieht nur noch einen Ausweg: Selbstmord.
Während sie zwischen Tod und Leben schwebt, findet sie sich plötzlich in einer Bibliothek wieder. Jedes Buch im Regal ist eine Variante ihres Lebens, die sie verpasst, ausgeschlagen oder abgebrochen hat. Und jetzt hat sie freie Wahl.
Die Idee des Romans entwickelt eine große Faszination, die bis zum Schluss anhält. Leider aber hat der Autor nicht die Fähigkeit, durch Sprache Bilder im Kopf entstehen zu lassen. Dennoch trägt das Konzept und führt die Lesenden am Schluss zu neuen Einsichten, die das eigene Leben bereichern.
Elisabeth Lechner: Riot, don’t diet! Aufstand der widerspenstigen Körper.
Kremayr & Scheriau 2021
Schönheit ist politisch! Kulturwissenschaftlerin Elisabeth Lechner analysiert in ihrem Buch den Schönheitsdiskurs und wie marginalisierte Körper in einer lookistischen Welt unterdrückt werden: bewertet wird aufgrund von Aussehen, nicht von Kompetenzen. Sie widmet sich dabei Themen wie Fat-Shaming, Rassismus, Diskriminierung von Menschen mit Behinderung, Queerness und der Entstehung der Body-Positivity-Bewegung.
Die Autorin ermöglicht neue Blickweisen auf solche komplexen Diskurse der Gegenwart und liefert fundierte Kritik an der Schönheitsindustrie. Immer wieder wird man als Leser*in stutzig und hinterfragt eigene Denkmuster. Diese Lektüre erweitert die Sicht auf Schönheit und man stimmt nur zu: wir brauchen mehr Systemgrant anstatt Selbsthass!
Tipp: Elisabeth Lechner hat für die Stadtbibliothek ein Video über Body Positivity und deren Forderungen aufgenommen: Elisabeth Lechner über Body Positivity
"Riot, don’t diet!" im Online-Katalog
Martin Schnick: Entweder die Tapete verschwindet oder ich!Kuriose und mysteriöse Todesfälle berühmter Dichter – von Albert Camus bis Stefan Zweig.
Autorinnen und Autoren– insbesondere berühmte – scheinen für unglückliche, gewaltvolle und in jedem Fall verfrühte Todesarten geradezu prädestiniert zu sein. Das Künstlerdasein hat eben auch seine Schattenseiten. Sei es, dass sie sich zu Tode trinken (Joseph Roth), dem Drogenrausch erliegen (Klaus Mann) oder den Selbstmord als Ausweg wählen (Sylvia Plath und Ernest Hemingway)
Martin Schnick macht uns mit dem Lebensende von 50 Literaten bekannt. Wer die Werke von Goethe und Schiller, Margret Mitchell, Edgar Allen Poe oder Oscar Wilde schätzt, bekommt hier Einblick in ihre oftmals schockierend elenden Todesstunden. Zugleich erfahren wir nebenher viel Interessantes über Alltagsgeschichte, z.B. über den Umgang mit Krankheit in früheren Zeiten. Es wird geraten, die Geschichten wohldosiert zu lesen.
"Entweder die Tapete verschwindet oder ich!" im Online-Katalog
Romina Pleschko: AmeisenmonarchieKremayr & Scheriau 2021
Ein Mietshaus und seine Bewohner ist das literarisch schon häufiger bearbeitete Thema im Romandebüt der österreichischen Autorin. Aber in diesem speziellen, ja geradezu gnadenlosen Ton lässt sich ein frischer unverwechselbarer Stil und ein Sinn fürs Aberwitzige entdecken.
Da ist der routinierte Gynäkologe Herb Senior, der seinem homosexuellen Sohn die Praxis übergibt. Oder die alleinerziehende Kosmetikerin Karin, die dem Alter noch mal von der Schippe springen will.
Und dann der Mann namens Klaus, akkurater Pedant zuhause, der sich in den Sozialen Medien unter falschen Namen bösartig austobt – alles keine sympathischen Figuren, aber haarscharf beobachtet und spitzzüngig seziert. Deren Schwächen und Strategien, die Fassade glänzen zu lassen, werden sprachlich messerscharf vor uns ausgebreitet.
Kein Wunder, dass am Schluss nicht mehr alle das Licht des Tages erblicken. Wir als Leser:innen freuen uns über eine neue Stimme in der Literaturlandschaft.
Dmitrij Kapitelman: Eine Formalie in Kiew
Hanser 2021
Dmitrij war vor 17 Jahren zuletzt in der Ukraine, und da war er 8 Jahre alt. Seitdem ging er in Dresden zur Schule, lernte dabei Sächsisch, studierte und machte seinen Weg.
Jetzt will er seine deutsche Mentalität mit einem deutschen Pass komplettieren. Und dafür braucht er eine aktuelle Geburtsurkunde samt Beglaubigung, die er nur in Kiew bekommt. Also ist ein Minimum an ukrainischer Gewandtheit nötig, um Deutscher zu werden. Eine Reise in die Vergangenheit mit zahllosen Überraschungen beginnt.
Kapitelman beschreibt in einem zwischen Humor und Melancholie schwankenden Ton seine Erfahrungen als Wanderer zwischen den Welten. Wie geht das: ukrainische Staatsdiener schmieren? Wie fühlt sich das an: seinen Vater in ein ukrainisches Krankenhaus einliefern? Und wie soll das gehen: sich mit seiner ukraine-nostalgischen Mutter und ihrer Katzenmanie versöhnen?
Eine Stimme der Menschlichkeit, die in der Erzählung des Dazwischen amtliche Vorstellungen von strammer Anpassung unterläuft. Und eine warm erzählte Familiengeschichte, die anrührt in ihrer Offenheit.
Julia Phillips: Das Verschwinden der Erde
Dtv 2021
Die zwei Schwestern Aljona und Sofija, 11 und 8 Jahre alt, schlagen die Zeit am Strand der sibirischen Halbinsel Kamtschatkas tot. Ihre alleinerziehende Mutter wird sowieso erst spät von der Arbeit heimkehren. Doch die beiden kommen nie zuhause an.
Ihr Verschwinden zieht weite Kreise der Betroffenheit in der eng miteinander verwobenen Gesellschaft unweit des Polarkreises. Leise und unaufgeregt lernen wir weitere weibliche Schicksale kennen. Warum sind so viele Mütter auf sich allein gestellt? Wie verkraftet eine Gesellschaft die Öffnung, nachdem sie bis 1990 als militärisches Sperrgebiet abgeschnitten war vom Rest der Welt? Wie kommen die Ureinwohner Kamtschatkas mit ihrer Rolle als verachtete Randgruppe zurecht?
Eine fremde, abgelegene Welt öffnet sich uns. Und auch das Schicksal der beiden Mädchen bekommt am Schluss noch eine Stimme.
Die amerikanische Autorin hat ein Jahr auf Kamtschatka verbracht. Ihr Konstruktionsprinzip, wie in einem Fächer nur lose miteinander verbundene Frauenschicksale vor uns auszubreiten, hat Stärken und Schwächen. Manche Kapitel haben Blut und Wärme, andere wiederum bleiben seltsam kalt und rätselhaft.
Für Menschen, die sich gerne auf fremde Welten einlassen und mit gucklochartigen Einblicken zufrieden sind.
János Székely: VerlockungDiogenes 2016
In einem ungarischen Bauerndorf zwischen den Weltkriegen fristet der kleine Béla ein elendes Leben als Pflegekind einer habsüchtigen Furie. Er ist ein leidenschaftliches, zutiefst verletztes Kind. Die erlittene Herzenskälte und bittere Armut machen aus ihm einen Außenseiter, mit dem nicht gut Kirschen essen ist. Da entfacht die Aussicht, zu seiner Mutter nach Budapest gehen zu dürfen, ungeahnte Kräfte in ihm.
Der Autor zieht einen großen Bogen durch eine harte Kindheit und Jugend voller Entbehrungen und spärlicher Triumphe. Wir kosten die unglaublichen Höhen und Tiefen im Leben dieses besonderen Menschen aus. Und wir lassen uns in ein Ungarn der extremen sozialen Gegensätze entführen.
Dies ist eine literarische Delikatesse, die über Generationen ein Dauerbrenner war und bleiben wird! Sinnliche Lektüre der Extraklasse für Menschen, die gerne ein wenig tiefer eindringen wollen in die Triebkräfte menschlicher Schicksale.
Cho Nam-Joo: Kim Jiyoung, geboren 1982Kiepenheuer & Witsch 2021
Die 33-jährige liebende Ehefrau und Mutter Kim leidet offenbar unter einer Persönlichkeitsstörung. Manchmal redet sie, als ob sie eine andere Person wäre. Und dann sagt sie ihren Zuhörer:innen unverblümte Wahrheiten ins Gesicht, die sie als Kim nie gewagt hätte, auszusprechen.
Was lief schief in Kims Leben, dass sie nur auf diesem Weg aus dem Rollenbild der gefügigen Wachspuppe ausbrechen kann?
Cho Nam-Joo hat ein klares, einfach aufgebautes, übersichtliches kleines Büchlein geschrieben. Und damit eine Welle der Bewunderung ausgelöst. Denn in schöner Balance zwischen Lebensbericht und Dokumentation wirft sie ein helles Scheinwerferlicht auf Missstände. Nämlich die Herabwürdigungen, denen eine südkoreanische Frau zeitlebens ausgesetzt ist.
Eines der seltenen Basisbücher, das auf einfache Art Einsichten bietet, denen sich niemand entziehen kann.
Axel Hacke: Im Bann des Eichelhechts
Kunstmann 2021
Sind Sie eine:r von denen, die im Autotouring-Magazin zuerst die Fotos mit verrückten Verkehrsschildern auf der letzten Seite anschauen? Dann sind Sie ein:e Kandidat:in für dieses Buch!
Axel Hacke versammelt sprachliche Fehlleistungen, Übersetzungsfehler, Liedtext-Verhörer und ähnliches, und macht daraus etwas Magisches: eine Sightseeingtour ins Sprachland. Hier blühen Tiftrienen im Walde (eigentlich tief drinnen) und Autofirmen sind so entspannt, dass sie Ihren Wagen „im gleichgültigen Zustand“ kaufen. Umzugskartons tragen die Aufschrift „Schlaffzimmer“ und „Fischsalat vom Huhn“ kann freiweg auf der Speisekarte bestellt werden.
Wer eine Ader für höheren Unsinn hat, kommt hier voll auf seine Kosten. Ich jedenfalls habe das Buch nicht im Zug geöffnet. Die Mitreisenden hätten sich Sorgen um mich gemacht.
Antti Tuomainen: Klein-Sibirien
Rowohlt 2020
Das Örtchen Hurmevaara im äußersten Osten Finnlands hat gerade einmal 1000 Einwohner. Aber ein nicht unbeträchtlicher Teil davon gerät in Verdacht, den wertvollen Meteoriten, der in den Wagen des Ralleyfahrers Tarvainen gefallen ist, stehlen zu wollen. Nur der Pfarrer stellt sich zur Verfügung, den Meteoriten im Militärmuseum zu bewachen. Aber der hat noch ein anderes Problem. Seine Frau eröffnet ihm freudestrahlend, dass sie schwanger ist. Dabei ist er zeugungsunfähig.
Der finnische Krimipreisträger Tuomainen hat einen Krimi mit schwarzem Humor geschrieben, der aufhorchen lässt. Der Pfarrer erinnert stark an Don Camillo und würde ohne seine Kriegseinsatz-Vergangenheit keinen Stich machen.
Zugleich hat der Krimi eine ganz eigene lakonische Sprache und beeindruckt durch starke Bilder aus dem finnischen Winter. Spannungsleser:innen mit literarischem Anspruch werden hier voll auf ihre Kosten kommen.
Colum McCann: Apeirogon
Rowohlt 2020
Das mir zuvor völlig unbekannte Wort bezeichnet eine zweidimensionale Figur mit fast unendlich vielen Seiten. Das erinnert an das Kaleidoskop unserer Kinderzeit, das durch Schütteln von Schmuckplättchen immer wieder neue Muster zaubert.
Und genau das macht dieses Buch. Es erzählt davon, wie Rami und Bassam, ein israelischer und ein palästinensischer Vater, durch Attentate ihre gerade flügge werdenden Töchter verlieren. Und wie sie sich dazu durchringen, Schulter an Schulter an den Wurzeln des israelisch-palästinensischen Konfliktes zu sägen; am Hass.
Kleine und Kleinstkapitel bieten auf den ersten Blick harmlose Details, die es in sich haben. Große Literatur!
Jana Volkmann: Auwald
Verbrecher Verlag 2020
Die junge österreichische Autorin hat mit Judith eine sympathische Antiheldin geschaffen. Judith kann es nicht so mit Menschen. Dafür als Tischlerin umso besser mit Holz. Schließlich muss ihr Chef sie bitten, auch einmal eine Erholungszeit zu nehmen. Als Touristin in Bratislava dauert es nicht lange, bis sie buchstäblich die ausgetretenen Pfade verlässt.
Eine erfrischende, sprachmächtige Expedition durch den Auwald und zu sich selbst!
Karin Kalisa: Sungs Laden
C.H.Beck 2015
Der achtjährige Minh, aufgewachsen am Prenzlauer Berg, Berlin soll ein vietnamesisches Kulturgut in die Schule mitbringen.
Und weil seine Großmutter eine Marionette in der Schule vorführt, kommt eine Welle ins Rollen. Schließlich laufen Parkwächter mit Kegelhüten auf den Köpfen herum und vielbefahrene Straßen werden von Pop-up-Brücken überwunden.
Eine heitere und frohe Utopie, die zeigt, was möglich wäre, wenn Menschen auf Menschen zugehen, egal welcher Herkunft. Lieblingsbuch zahlloser Fans! Für Menschen, die an das Gute glauben und darin bestärkt werden wollen.
John Boyne: Cyril Avery
Piper 2018
Cyril ist sieben Jahre alt, als er seinen Freund Julian kennenlernt, ein lebenslustiger Typ, den der homosexuelle Cyril während seiner ganzen Jugend heimlich begehrt. Im Irland der Nachkriegszeit homosexuell zu sein, ist ein schweres Los. Cyrils lügenvolles Leben kulminiert in einem folgenschweren Fehler. Erst dann kann Cyril ein neues Leben beginnen.
Ein Schmöker, bei dem wir am Ende traurig sind, Cyril, der uns zum Freund wurde, verlassen zu müssen. Ein zu Herzen gehendes Schicksal, erzählt in einer so geschmeidigen Sprache, lässt die über 700 Seiten wie im Flug vergehen.
Alice Hasters: Was weiße Menschen nicht über Rassismus hören wollen aber wissen sollten.
hanserblau 2019
Alice Hasters Buch hat mich zutiefst betroffen gemacht und Reflexionen zu meinem eigenen Verhalten angeregt, zeigt aber auch konkrete Handlungsmöglichkeiten auf und bietet Hoffnung. Große Empfehlung!
„Selten fühlen sich weiße Menschen so angegriffen, allein und missverstanden, wie dann, wenn man sie oder ihre Handlungen rassistisch nennt. Das Wort »Rassismus« wirkt wie eine Gießkanne voller Scham, ausgekippt über die Benannten. Weil die Scham so groß ist, geht es im Anschluss selten um den Rassismus an sich, sondern darum, dass ich jemandem Rassismus unterstelle.“
Alice Hasters wählt in ihrem Buch einen sehr persönlichen Zugang zum Themenkomplex Rassismus: sie erzählt aus ihrer Biografie als Schwarze Frau in Deutschland über Rassismus im Alltag. Eindringlich verbindet sie die Anekdoten auf theoretischer Ebene mit historischen Belegen und macht klar: wir alle tragen dazu bei und müssen uns mit unserem Rassismus befassen, auch wenn es unangenehm oder gar schmerzhaft wird.
Falls lieber gehört werden will: das Hörbuch, von der Autorin selbst gelesen, findet sich auf allen Hörbuchplattformen kostenlos (etwa auf Spotify oder audible).
Tanja Paar: Die zitternde Welt
Haymon 2020
Die Österreicherin Maria schlägt sich 1896 schwanger zu ihrem Freund durch. Der lebt als Bauingenieur der Bagdadbahn in einem Dorf mitten im Osmanischen Reich. Da verdüstert sich der weltpolitische Horizont. Es riecht nach Krieg. Ein Roman, der das Schicksal einer Familie in den großen weltpolitischen Verwerfungen ihrer Zeit verfolgt. Abseits von Klischees und mutig in seiner Schilderung menschlichen Scheiterns.
Meena Kandasamy: Schläge. Ein Porträt der Autorin als junge EhefrauCulturbooks 2020
Die indische Autorin erzählt, reflektiert und beleuchtet ihr viermonatiges Leben als geschlagene, misshandelte und vergewaltigte Ehefrau. Dieses Buch ist ein Molotowcocktail. Es sprengt Grenzen. Grenzen der Selbsterkenntnis und der Scham, Grenzen des Sagbaren, Grenzen des gesellschaftlich Akzeptierten und Grenzen zwischen den Geschlechtern.
Benjamin Myers: Offene SeeDuMont 2020
Der 16-jährige Bergarbeitersohn Robert macht sich kurz nach dem Zweiten Weltkrieg zu Fuß auf, um sein Land näher kennenzulernen, wandert durch grüne Wiesen und Flusstäler. Da trifft er auf die alte Dulcie, die zusammen mit ihrem Hund in einem überwucherten Cottage über dem Meer wohnt. Ein Buch der menschlichen Weisheit, des zauberischen Loblieds auf die Natur und die Poesie. Ein Buch für Herz und Seele!
Chimananda Ngozi Adichie: American
S. Fischer 2013
Ifemelu, eine gut ausgebildete Nigerianerin übersiedelt als Princeton-Stipendiatin in die USA. Sie wird unterstützt und liebevoll begleitet aus der Ferne von ihrer großen Liebe Obinze. Der Kulturschock und besonders die unüberwindlich scheinenden Geldprobleme werfen sie aus der Bahn. Am Tiefpunkt ihrer Selbstentfremdung lässt sie den Kontakt mit Obinze abreißen. Aber das Leben in den USA hat gerade erst begonnen. Besonders ihr Blog, in dem sie messerscharf analysiert, wie Schwarze in den USA behandelt werden, eröffnet ihr neue Wege. Als sie in den USA voll angekommen ist, trifft sie eine Entscheidung, die niemand in ihrem Umfeld verstehen kann.
Adichie ist eine großartige Beobachterin und Erzählerin. Auf 600 Seiten nimmt sie uns an die Seite von Ifemelu, die erst in den USA bemerkt, dass sie ein Hautfarbenproblem hat. Nebenbei lernen wir viel über unsere eigenen Vorurteile und über die Stellung von Schwarzen in Amerika. Am fesselndsten ist aber die menschliche Entfaltung Ifemelus, die sich selbst emanzipiert und lernt, auf ihre innere Stimme zu hören. Die Stimme einer schwarzen Autorin, der zuzuhören sich lohnt. Und zwar auf jeder der 600 Seiten.
Heinrich Steinfest: Der ChauffeurPiper 2020
Der Chauffeur Paul Klee macht einen Fehler, den er sich selbst nicht verzeihen kann. Er rettet bei einem Autounfall nicht zuerst das 10-jährige Kind, sondern seinen eigenen Chef, einen skrupellosen Machtmenschen. Indem er daraufhin mit seiner neuen Liebe ein „Hotel zur kleinen Nacht“ eröffnet, beginnt er ein neues Leben, und das ist nicht das letzte Mal, dass er neu anfangen muss…
Heinrich Steinfest schreibt einen gelassenen, nachdenklichen und immer auch humorvollen Stil. Er ist zugleich ein bodenständiger Realist, ein tiefgründiger Philosoph und ein verrückter Fantast. Von all dem bedient er sich souverän und doch ist der Roman aus einem Guss. Jeder Satz schmeichelt der Intelligenz und der Sprachliebe des Lesenden. Das nächste Buch von Steinfest nehme ich mir in die Quarantäne mit (wenn sie denn kommen sollte) – ein möglichst dickes.
Maria Lazar: Leben verboten!Das vergessene buch 2020
Das Buch einer Wiener Autorin, die ins Exil gehen musste, spricht zu uns aus dem Jahr 1932, ist aber 2020 zum ersten Mal in voller Länge erschienen. Und das ist ein Verdienst, denn sein expressionistischer Stil und die herausragende Zeitanalyse der Autorin suchen ihresgleichen. Ich wurde an „Berlin Alexanderplatz“ von Alfred Döblin erinnert.
Die Autorin schreibt kraftvoll und bildhaft. Lange Passagen bestehen aus wörtlicher Rede, die sie meisterhaft einsetzt. Ein ungewöhnlicher, erfrischender Stil ganz nah an den Menschen, die damals die Straßen bevölkerten: Hausangestellte, verarmte Adlige, Arbeitslose und nationalsozialistische Fanatiker.
Herr von Ufermann, gutsituierter Firmenchef, hat Alpträume. Und die sollen sich als Vorzeichen herausstellen, denn seine Brieftasche mit den Flugtickets wird gestohlen, er verpasst seinen Flug und damit seinen eigenen Tod, denn das Flugzeug stürzt ab und alle Insassen verkohlen zur Unkenntlichkeit. Statt seines Lebens froh heimzukehren, gerät er in eine Identitätskrise. Denn seine Firma und wohl auch seine Ehe kann nur mit den Versicherungsmillionen gerettet werden, die mit seinem Tod fällig werden. Er lässt sich treiben und gerät an kriminelle Politaktivisten, die ihn gut gebrauchen können.
János Székely: VerlockungDetebe 2016
Hier ist der Langzeit-Favorit zahlloser Menschen. Der Bauernjunge Béla arbeitet zwischen den beiden Weltkriegen als Liftboy in einem Budapester Grandhotel. Bittere Armut und überbordender Reichtum des Geldadels treffen aufeinander. Sinnliche, anregende Lektüre, die fast 1000-seitig zum Abtauchen taugt.
Christine Wunnicke: Die Dame mit der bemalten HandBerenberg 2020
Wir schreiben das Jahr 1764. Musa al Lahuri, Astronom am Hof des Herrschers von Jaipur, und Carsten Niebuhr, dänisch-deutscher Forschungsreisender im Orient, treffen wider alle Wahrscheinlichkeit aufeinander. Poetisch-leichtfüßige Kostbarkeit mit hintergründigem Humor und viel Lust am Spiel mit der Sprache. Ein kleines Wunder!
Iris Wolff: Die Unschärfe der WeltKlett-Cotta 2020
Wir haben durch Corona auch einiges gelernt: zum Beispiel innezuhalten. Hier ist das Buch dazu. Iris Wolff erzählt eine Familiengeschichte aus dem Banat in vier Generationen und schafft es zugleich, die Zeit stehenzulassen. Nichts hastet nach vorne, nichts will überlesen sein. Jedes Wort lässt Gegenwart spüren: sinnliche Eindrücke, Wahrnehmungen, Gefühle. Außergewöhnlich!
Ferdinand von Schirach: GOTT. Ein TheaterstückLuchterhand 2020
Ist es moralisch gesehen vertretbar, sein Leben selbst zu beenden, auch wenn man körperlich und geistig gesund ist? Und darf man dabei aus ethischer Sicht ärztliche Hilfe in Anspruch nehmen?
Dieser Frage widmet sich die deutsche Ethikkommission bei einer Anhörung zum Fall Richard Gärtner. Dem 78-Jährigen bedeutet sein Leben nach dem Tod seiner Frau nichts mehr. Expertenmeinungen aus der Ärzteschaft, der katholischen Kirche und des Rechts werden eingeholt. Der Anwalt von Gärtner spielt den Advocatus Diaboli. Er zerpflückt die vorgetragenen Einwände und versucht so, dem Anliegen Gärtners eine Tür zu öffnen. Die Entscheidung wird – wie schon bei dem Stück „Terror“ von Schirach – dem Publikum überlassen.
Schirach gelingt ein Doppeltes: Er führt vor, wie in Zeiten medialer Schlammschlachten eine emotional aufgeladene Frage von allen Seiten beleuchtet wird - besonnen und unter Achtung der Kontrahenten. Und er spielt den Ball zurück an die Lesenden, die sich in den vorgetragenen Positionen wiederfinden können. Ein Buch, das Diskussionen im Freundeskreis auslösen soll und wird. Ein Buch, das die existenzielle Frage stellt: Wem gehört unser Leben? Jede/r wird sie auf seine persönliche Art beantworten wollen.
Sandra Weihs: Delilah
Czernin 2020
Penelope ist eine Schülerin, die es aufgegeben hat, nach Freundinnen zu suchen. Da tritt die neue Mitschülerin Delilah in ihr Leben, ein Vogel, dem von klein auf „das Lied der Freiheit geträllert wurde“. Und mit Delilah kommen Mut, Freundschaften, eine Clique und schließlich die erste Liebe.
Aber als Delilah eines Nachts wegen ihrer Unfähigkeit Nein zu sagen, vergewaltigt wird, geht ein Riss durch das Fundament der verschworenen Gemeinschaft. Penelope muss Farbe bekennen. Überlässt sie weiterhin Delilah die Führung für ihr Leben? Und wenn sie selbst das Ruder übernimmt, wählt sie das sichere Nest oder den freien Flug?
Ein sehr poetischer, zu Herzen gehender Roman einer jungen österreichischen Autorin mit einer ganz eigenen Sprachmelodie. Wer einmal SchülerIn war und sich an das Gefühl der offenen Zukunft als junger Mensch erinnern kann, taucht tief in diese sensible Gefühlswelt mit ein. Ein musikalisches Buch mit großer poetischer Strahlkraft.
Isabelle Autissier: Herz auf Eis
Mare 2017
Ein junges Paar kündigt sein vorhersehbares Leben auf und bricht zu einer Weltumsegelung auf. Ludovic, der erfolgsverwöhnte Sonnyboy, und Louise, die zierliche Bergsteigerin, geraten auf einer Insel in der antarktischen See in einen Sturm. Am nächsten Morgen ist ihr Schiff wie vom Erdboden verschluckt. Ab da beginnt ein Psychokrimi. Im Kampf ums Überleben wird ihre Liebe auf die Probe gestellt, aber nicht nur das. Die existenzielle Not bringt Seiten in ihnen zum Vorschein, die sie nie in sich vermutet hätten. Bis eine Entscheidung ansteht, die ihrer beider Schicksal auseinanderreißt.
Die Autorin ist im wahren Leben die erste Frau, die alleine die Welt umsegelt hat. Das erklärt die hohe Glaubwürdigkeit der Handlung. Die verzweifelten Rettungsversuche und Stimmungswechsel des Paares lassen uns hoffen und bangen. Dazu kommt die hohe Bildkraft der Sprache. Eine Reise nicht nur zu den Schönheiten der Erde, sondern auch zu den Triebkräften der menschlichen Natur.
Für alle, aber besonders für Menschen, die psychologische Spannung schätzen.
Ilija Trojanow: Doppelte SpurS. Fischer 2020
„Alles in diesem Roman ist wahr oder wahrscheinlich.“ Dieser Satz steht dem Buch voran. Auch wenn das Entsetzen über haarsträubende Machenschaften mich Zeile für Zeile nicht mehr loslässt – ja, das glaube ich.
Ilija bekommt sowohl von amerikanischer als auch russischer Seite geleakte Dokumente zugeschickt. Bei der Aufarbeitung wird klar, wie skrupellos Politfunktionäre beider Seiten mit Wahrheit, Geld und Macht umgehen. Wegen emotionaler Überforderung bekommt Ilija Verstärkung durch einen Journalisten-Kompagnon. Auch Emi gesellt sich dazu, die den Fall Sexueller Massenmissbrauch durch „Geoffrey Wasserstein“ aufarbeitet. Zwischen Ilija und Emi keimt ein Funke von Gefühl auf.
Ein Höllenritt durch die Umtriebe eines Konglomerats aus Mafia, Multimillionären und Politmanagern, die sich in ihrer Abgefeimtheit nicht voneinander unterscheiden. Trump und Putin bis zur Kenntlichkeit entstellt. Die Wärme der Liebesgeschichte als rettender Anker in einem Ozean der Kälte.
Obwohl harte Kost möchte ich kein Wort davon missen. Besser die Tiefe des Abgrunds kennen, als ahnungslos darüber hinwegzuspazieren.
Lisa Eckhart: Omama
Zsolnay 2020
Lisa Eckhart, die Grenzgängerin und Stein des Anstoßes im österreichischen Kabarett hat ihr erstes Buch geschrieben. Es soll von der Biografie ihrer Oma handeln, eigentlich ist es aber eine österreichische Provinzsatire von der Besatzungszeit bis in die 80er Jahre.
Wenn im gesellschaftlichen Diskurs die Grenze des Anstoßes bewusst vermieden wird, fühlt sich Lisa Eckhart genau dort und noch weit dahinter in ihrem Element. Wenn das Verschweigen beginnt, setzt sie ihre rhetorischen Scheinwerfer ein. Derbe Dialektwörter, findige Sprachassoziationen und Zuspitzung bis hin zur Farce sind ihre Mittel.
In Ihrer kabarettistischen Kunst macht sie Tabus sichtbar und leuchtet dunkle Winkel des gesellschaftlichen Bewusstseins aus. In einem Roman ermüdet aber der geballte Sprachwitz. Die Handlung verliert den roten Faden. Bösartige Beleidigungen, Obszönitäten und Unverschämtheiten aneinandergereiht verlieren die Wirkung. Eine Kürzung auf die Hälfte hätte dem Buch vielleicht gut getan.
Klaus Cäsar Zehrer: Das Genie
Diogenes 2017
1886 landet der junge russische Jude Boris Sidis mittellos in New York. 5 Jahre später beginnt er ein Psychologiestudium in Harvard, absolviert danach ein zusätzliches Medizindoktorat und treibt die Forschungen zu psychischen Krankheiten voran. Rastlos und bildungsvernarrt wie er ist, entwickelt er eine völlig neue Erziehungsmethode für seinen Sohn William.
Billy lernt mit 18 Monaten lesen und beginnt mit 11 Jahren, nach 3 Jahren Wartezeit ein Harvard-Studium. Er spricht 25 Sprachen. Da wendet sich das Blatt. Als Erwachsener zieht sich Billy immer mehr aus der Öffentlichkeit zurück und nimmt Routinejobs im Büro an. Er lehnt die ungleiche Verteilung von Reichtum und Chancen ab und engagiert sich im Kommunismus.
Dass er nie gelernt hat, menschliche Wärme und Empathie zu empfinden, lässt ihn schließlich scheitern. Das spannende, episch ausgebreitete Schicksal eines Menschen, der das Heil der Menschheit allein in der Rationalität sucht. Zum Reinknien an regnerischen Sonntagen.
Kathrin Passig / Aleks Scholz: Handbuch für Zeitreisende
Rowohlt 2020
Herzlich willkommen im Pleistozän! Abenteuerurlaub in der ehemaligen DDR! Lassen Sie die Seele baumeln beim Urknall! Alles, was Zeitreisende wissen müssen, versammelt in einem inspirierenden Reiseführer. Wer sagt denn, dass in Zeiten von Corona keine Abenteuer mehr möglich sind?
Nachdem wir alles über die physikalischen Voraussetzungen für Zeitreisen erfahren haben, wenden wir uns den attraktiven Reisezielen zu. Wir erhalten Rat darüber, wie wir am besten in den Lauf der Geschichte eingreifen. Und wie wir mit Seuchen im Mittelalter und Toiletten im alten Rom umgehen.
Ganz nebenbei fällt es uns wie Schuppen von den Augen. Die Entdeckung des Penicillins 1928 war epochemachend. Und Island ragt im frühen Mittelalter als sehr empfehlenswertes Land heraus. Die genaue Datierung des Ankunftstermins ist komplizierter als man denkt, solange jedes kleine Land eine eigene Zeitrechnung pflegt. Und was es da noch an faszinierenden Details zu beachten gilt, bevor wir uns in das Wurmloch stürzen.
Geschichte für Weltenbummler, Reisen für Kopf-Globetrotter, Führung für Fantasten!
Samanta Schweblin: Hundert Augen
Suhrkamp 2020
Kentukis sind käufliche fahrbare Plüschfiguren, niedlich, aber auch irgendwie schäbig. In den schwarzen Knopfaugen der Kentukis verstecken sich Kameras. Sie übertragen jede Bewegung der Kentuki-Halter auf einen Computerbildschirm. Und irgendwo auf der Welt starrt ein Mensch, der sich den Zugang gekauft hat, darauf.
Diese Konstellation hat es in sich. Der Siegeszug der Kentukis ist nicht aufzuhalten. Da gibt es immer mehr Menschen, die einen Beobachter in ihr Leben einladen. Oder bis in die intimsten Regungen am Leben eines Andern mitnaschen wollen. Zum Beispiel das Kaninchen Emilia, eine einsame Rentnerin in Lima. Sie versucht, ihre „Betreuerin“ Eva zu warnen, da sie beobachtet, wie ihr Freund sie beklaut. Oder Katia und Amy. Mithilfe von peinlichen Videoaufnahmen ihrer Mitschülerin Susan wollen sie diese kompromittieren. Erpressung inclusive.
Wir verfolgen gebannt die Untiefen, in die Menschen geraten, wenn sie glauben, anonym bleiben zu können. Aber mit der Anonymität ist das so eine Sache… Nach Art eines Psychothrillers entwickeln sich die Beziehungen in eine Richtung, die nicht vorhersehbar war. Ein grauenerregendes und faszinierendes Experiment mit der menschlichen Psyche. Und das ist kein Zukunftsroman!
Helena Adler: Die Infantin trägt den Scheitel links.
Jung und Jung 2020
Eine Kindheit auf dem Bauernhof. Zugleich eine Parforcejagd durch die Hölle. Jedes Wort ein Treffer. Die Urgroßeltern sind schon zu alt zum Sterben. Die Großeltern mütterlicher- und väterlicherseits sind verfeindet wie die Montagues und Capulets. Die Eltern verdreschen sich gegenseitig. Die älteren Zwillingsschwestern piesacken die Jüngste mit sardonischer Freude. Und mittendrin das keineswegs unschuldige Ich, das wie aus Notwehr das elterliche Heim abfackelt.
Adler beherrscht die Sprache, wie ich es bisher noch nicht lesen konnte. Weltliterarische Anspielungen und Ausflüge in die ordinärsten Schmutzkübel wechseln sich ab. Dialektbeschimpfungen erhöhen die Fallhöhe der Bibelzitate. Berühmte Gemälde werden herbeizitiert und sprachliche Bilder beschworen, die wie der Blitz einschlagen.
Das Buch ist auf der Longlist für den Deutschen Buchpreis und für den Österreichischen Buchpreis nominiert. Die bäuerische Originalität ihrer Sprache ist so erfrischend, dass ich ihr jeden Preis gönne. Ihre Beobachtungsgabe ist fast schon mörderisch. Ein ganz besonderes Ausnahmetalent, das die Gehirnzellen gehörig aufwirbelt.
Robert Seethaler: Der letzte Satz
Hanser 2020
Gustav Mahler sitzt an Deck des Schiffes „America“ mit Ziel Europa, in eine warme Wolldecke gewickelt. Er weiß, dass er sterben wird. Ein Strom von Gedanken und Erinnerungen zieht an ihm vorbei. Seine musikalischen Erfolge in Wien und New York, das Scheitern seiner Ehe mit Alma, der traumatische Tod seiner Lieblingstochter Maria. Ein 15-jähriger Schiffsjunge wartet ihm auf. Er lässt sich nicht abschrecken vom ruppigen Ton Mahlers und kommt mit ihm ins Gespräch.
Seethaler möchte sein Buch nicht als biographische Annäherung an die historische Person Mahlers verstehen, sondern als eigenständiges künstlerisches Werk. Eine leise Melancholie durchzieht die Sätze. Der glasklare Stil Seethalers, der sich Zeit nimmt und Pausen lässt für das Nachdenken, streichelt die Seele. Dennoch muss ich mich manchen Kritikern anschließen: der Charakter Mahlers bleibt zu schemenhaft. Und viele Gedanken Mahlers bleiben im Belanglosen stecken.
Ein hochgepriesenes Werk, das bei mir nicht angekommen ist. Bitte selbst nachprüfen und gerne mit mir in Austausch gehen!
Amir Hassan Cheheltan: Der Zirkel der Literaturliebhaber
C.H. Beck 2020
Dies ist kein Roman, eher ein leidenschaftliches Zeugnis für die Liebe zur Literatur. Cheheltan nahm schon als Jugendlicher am Literaturzirkel seines Vaters teil. Mitten in Teheran versammelte dieser 32 Jahre lang 8 Literaturbegeisterte zum wöchentlichen Diskussionsabend.
Das Buch erhält seine Spannung durch einen extremen Kontrast. Die Unterdrückungsmaßnahmen des Regimes – sei es unter dem Schah oder unter den islamischen Religionsführern - stehen Cheheltans schwärmerischer Hingabe an die klassische persische Literatur gegenüber. Hier findet er – auch sexuelle - Freizügigkeit und Realismus statt Ideologie und Heuchelei. Doch auf die Dauer bricht sogar in diese heile Parallelwelt die Brutalität ein.
Ein erstaunlicher Einblick darin, wie die Literatur eines jahrtausendealten Kulturvolkes in homoerotischen Fantasien schwelgt. Wir nehmen betroffen an der überlebensnotwendigen Abwehrstrategie eines Literaten unter schwierigsten Bedingungen teil.
Ein zugleich irritierendes und mitreißendes Buch.
Marco Balzano: Ich bleibe hier
Diogenes 2020
Wer den aus dem Reschensee herausragenden Kirchturm kennt, möchte gerne die Geschichte dahinter kennenlernen. Marco Balzano hat eine ergreifende Handlung mit historischer Faktentreue verbunden.
Trina ist eine junge Deutschlehrerin aus Graun/Südtirol, eher menschenscheu und „eigensinnig“. In den dreißiger Jahren ballen sich dunkle Wolken am politischen Himmel zusammen. Die aufkommenden Faschisten unter Mussolini setzen alles daran, Südtirol das Deutsche auszutreiben. Die „große Option“ Hitlers stellt die Südtiroler vor die Wahl: entweder Verlust der Heimat durch Auswanderung oder Verlust der Sprache durch Italianisierung. Der Nationalsozialismus fasziniert immer mehr junge Männer.
Trinas Leben, aufgerieben zwischen landwirtschaftlicher Arbeit, Kinderfürsorge und politischer Unterdrückung, ist kein leichtes. Wie ein Damoklesschwert hängt der Bau des größten Staudamms Europas über dem Dorf. Dennoch finden ihr Mann Erich und sie einen Weg zusammenzuhalten und den immer schlimmer werdenden Zumutungen zu trotzen.
Ein tief beeindruckendes Lebenspanorama inmitten der für Südtirol schlimmsten Jahrzehnte. Literarisch feinfühlig und charakterstark erzählt. Für alle!
Hubert Achleitner: flüchtigZsolnay 2020
Hubert von Goisern hat seinen ersten Roman geschrieben und mit Hilfe von Wolfgang Köhlmeier sofort den richtigen Verlag gefunden. Seine musikalischen Fähigkeiten kommen auch in diesem Buch, das vollständig ohne Bösewichte auskommt, zum Tragen. Ein Gefühl für Sprachmelodien und überaus treffende und kreative Vergleiche machen das Lesen zum Genuss. Sanft und menschenfreundlich wird das seit 30 Jahren verheiratete Paar Maria und Herwig durch Aufbrüche und Abenteuer, Seiten- und Abwege, Glücksmomente und Leidensstrecken geführt. Ab und an spürt man den Autor durch seine Figuren durchschimmern.
Ein emotionales Buch, das mit Marias Weg zum Heiligen Berg Athos in Griechenland eine Reise ins Spirituelle verknüpft. Aufgrund der sprachlichen Kreativität und der trotz aller beschriebenen Krisen positiven Grundstimmung ein Lesevergnügen!
Ayelet Gundar-Goshen: Löwen weckenKein & Aber 2016
Ein Buch, das auf 14 Auflagen zurückschauen kann, und aktueller nicht sein könnte. Ein israelischer Neurochirurg überfährt einen illegalen Einwanderer. Der Eritreer liegt im Sterben. Wenn er den Unfall meldet, wird sein eigenes Leben auf den Kopf gestellt, dem Mann aber trotzdem nicht geholfen. Also fährt er weiter.
Dumm nur, dass die Frau des Toten am nächsten Tag Bedingungen stellt für ihr Schweigen. Bedingungen, die sein altes Leben aus den Angeln heben. Ungewollt vermischt sich sein Schicksal mit den sonst unsichtbaren Schatten der illegalen Existenzen.
Ein begeisterndes Buch, weil die Autorin vor nichts Angst hat. Keine Angst vor den Untiefen der menschlichen Feigheit, keine Scheu vor archaischen körperlichen Regungen, keine Illusionen über die Kluft zwischen Mensch und Mensch. Unweigerlich fragen wir uns selbst, wie wir handeln würden von Wendung zu Wendung – und davon gibt es viele! Ein Buch zur Selbsterkundung an der Hand einer unerschrockenen Autorin – grandios!
Xaver Bayer: Geschichten mit MarianneJung und Jung 2020
Eine Sammlung von 20 Geschichten, die es in sich haben!Es läuft immer nach dem gleichen Muster ab. Der Ich-Erzähler verwickelt sich bei harmlosen Spielchen oder geplanten kleinen Abenteuern in haarsträubende Horrortrips. Gleichmütig stellt er sich den irrwitzigen Herausforderungen seiner kafkaesken Erlebnisse. Einzige Gefährtin oder auch Initiatorin oder Begleiterin ist Marianne. Sie stellt hinter den Kulissen die Weichen oder stiftet zum Aufbruch an, immer aber ist sie gesichtslos und ziemlich dominant.
Vorsicht: Das Abirren in alptraumhafte Szenen hat mich geradezu süchtig gemacht. Beim „Zirkus des Grauens“ z.B. kämpfte mein Sinn fürs Makabre mit der Lust am Gelächter (das mir zugleich im Halse stecken blieb). Für LiebhaberInnen skurriler Erfahrungen und zwiespältiger Gefühlszustände.
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